Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
alten Maschinen für neue Ziele zu bemächtigen: das ist reaktionäre Utopie. Die Auswahl der Menschen im alten Apparat, ihre Erziehung, ihre gegenseitigen Beziehungen - das alles widerspricht den historischen Aufgaben des Proletariats. Hat man erst die Macht erobert, dann heißt es nicht den alten Apparat umzuformen, sondern ihn in Stücke zu zerschlagen. Wodurch ihn ersetzen? Durch die Sowjets. Aus Führern der revolutionären Massen, aus Organen des Aufstandes werden sie zu Organen einer neuen Staatsordnung werden.
Im Strudel der Revolution würde die Arbeit wenig Leser finden, sie wird auch erst nach dem Aufstande herausgegeben werden. Lenin bearbeitet das Problem des Staates vor allem für die eigene innere Sicherheit und - für die Zukunft. Die Wahrung der geistigen Nachfolgeschaft bildete eine seiner ständigen Sorgen. Im Juli schreibt er Kamenjew: "Entre nous, sollte man mir den Garaus machen, bitte ich Sie, mein Heft Der Marxismus über den Staat (in Stockholm stek-kengeblieben) herauszugeben. Blauer Umschlag, gebunden. Gesammelt sämtliche Zitate aus Marx und Engels, wie auch Kautsky gegen Pannekoek. Enthält eine Reihe Anmerkungen und Notizen. Formulieren. Ich glaube, die Herausgabe ist möglich nach einer Woche Arbeit. Erachte es als wichtig, denn nicht nur Plechanow und Kautsky verwirrten. Bedingung: all dies absolut entre nous." Der revolutionäre Führer, gehetzt als Agent eines feindlichen Staates und mit der Möglichkeit eines Attentates seitens der Feinde rechnend, sorgt sich um die Herausgabe eines "blauen" Heftes mit Zitaten aus Marx-Engels: das ist sein Geheimtestament. Das Wörtchen "Garaus machen" muß als Gegengift dienen gegen die verhaßte Pathetik: der Auftrag ist seinem Wesen nach pathetischen Charakters.
Während er aber einen Schlag in den Rücken erwartete, bereitete Lenin sich darauf vor, einen Schlag in die Brust zu führen. Indes er zwischen Zeitunglesen und Abfassen instruktiver Briefe das endlich aus Stockholm eingetroffene wertvolle Heft ordnete, hielt das Leben nicht still. Es nahte die Stunde, wo bevorstand, die Frage des Staates praktisch zu lösen.
Aus der Schweiz hatte Lenin gleich nach dem Sturze der Monarchie geschrieben: "... Wir sind keine Blanquisten, keine Anhänger der Machtergreifung durch eine Minderheit ..." Den gleichen Gedanken entwickelte er nach Ankunft in Rußland: "Wir sind jetzt in der Minderheit, - die Massen glauben uns vorläufig nicht. Wir werden warten können ... Sie werden uns zuströmen, und wir werden dann unter Berücksichtigung des Kräfteverhältnisses sagen: unsere Zeit ist gekommen." Die Frage der Machteroberung stand in diesen ersten Monaten als Frage der Eroberung der Mehrheit in den Sowjets.
Nach der Niederschlagung proklamierte Lenin: die Macht kann von nun an nur vermittels des bewaffneten Aufstandes ergriffen werden; dabei wird man sich allem Anschein nach stützen müssen nicht auf die durch die Versöhnler demoralisierten Sowjets, sondern auf die Fabrikkomitees; Sowjets als Organe der Macht werden nach dem Siege neu geschaffen werden müssen. In Wirklichkeit entrissen die Bolschewiki bereits zwei Monate später die Sowjets den Versöhnlern. Die Art des Leninschen Irrtums in dieser Frage ist in höchstem Maße charakteristisch für sein strategisches Genie: für die allerkühnsten Pläne macht er Berechnungen, ausgehend von den allerungünstigsten Voraussetzungen. Wie er im April, als er durch Deutschland nach Rußland reiste, glaubte, vom Bahnhof ins Gefängnis zu geraten, wie er am 5. Juli sagte: "sie werden uns wohl abschießen", so meinte er auch jetzt: die Versöhnler werden uns hindern, die Mehrheit in den Sowjets zu erobern.
"Es gibt keinen kleinmütigeren Menschen als mich, wenn ich einen Kriegsplan ausarbeite", schrieb Napoleon an General Berthier, "ich übertreibe alle Gefahren und alle möglichen Mißgeschicke ... Ist aber mein Entschluß gefaßt, ist alles vergessen außer was seinen Erfolg sichern kann." Läßt man die Pose, die sich in dem wenig angebrachten Worten "Kleinmut" äußert, beiseite, kann man den Kern des Gedankens vollständig auf Lenin beziehen. Mit der Lösung eines strategischen Problems beschäftigt, stattete er den Feind im voraus mit der eigenen Entschlossenheit und dem eigenen Weitblick aus. Lenins taktische Fehler waren am häufigsten Nebenprodukte seiner strategischen Stärke. In diesem Falle ist es überhaupt wohl kaum am Platze, von einem Fehler zu sprechen: wenn ein Diagnostiker an die
Weitere Kostenlose Bücher