Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Wahlstatistik hatte er nur Verachtung. Aber gleichzeitig identifizierte Lenin niemals den Index des Parlamentarismus mit dem tatsächlichen Kräfteverhältnis: er brachte stets eine Korrektur für die direkte Aktion hinein. "... Die Kraft des revolutionären Proletariats vom Standpunkte des Einwirkens auf die Massen und ihrer Einbeziehung in den Kampf", mahnt er, "ist unvergleichlich größer im außerparlamentarischen Kampfe als im parlamentarischen. Das ist eine sehr wichtige Beobachtung für die Frage des Bürgerkrieges."
Mit scharfem Auge entdeckte Lenin als erster, daß die Agrarbewegung eine entscheidende Phase betreten hatte, und zog daraus sofort alle Schlußfolgerungen. Der Muschik will nicht länger warten, ebensowenig der Soldat. "Angesichts einer solchen Tatsache wie der Bauernaufstand", schreibt Lenin Ende September, "hätten alle anderen politischen Symptome, selbst wenn sie dem Heranreifen der gesamtnationalen Krise widersprechen würden, nicht die geringste Bedeutung." Die Agrarfrage ist das Fundament der Revolution. Der Sieg der Regierung über den Bauernaufstand wäre das "Begräbnis der Revolution ... " Auf günstigere Bedingungen zu hoffen, besteht keine Notwendigkeit. Die Stunde zum Handeln naht. "Die Krise ist reif. Die gesamte Zukunft der russischen Revolution steht auf dem Spiel. Die gesamte Zukunft der internationalen Arbeiterrevolution für den Sozialismus steht auf dem Spiel. Die Krise ist reif."
Lenin ruft zum Aufstand. Aus jeder einfachen, prosaischen, mitunter eckigen Zeile klingt höchste Spannung der Leidenschaft. "Die Revolution geht zugrunde", schreibt er Anfang Oktober an die Petrograder Parteikonferenz, "wenn die Kerenski-Regierung von den Proletariern und Soldaten nicht in der allernächsten Zukunft gestürzt wird ... Man muß alle Kräfte mobilisieren, um den Arbeitern und Soldaten den Gedanken von der unbedingten Notwendigkeit des verzweifelten, letzten, entscheidenden Kampfes für den Sturz der Kerenski-Regierung einzuflößen."
Mehr als einmal hatte Lenin gesagt, die Massen seien linker als die Partei. Er wußte, daß die Partei linker war als die Oberschicht der "alten Bolschewiki". Zu gut konnte er sich die inneren Gruppierungen und Stimmungen im Zentralkomitee vergegenwärtigen, um von dieser Seite irgendwelche riskanten Schritte zu erwarten: dafür befürchtete er stark überflüssige Vorsicht, Zaudern, Versäumung einer jener historischen Situationen, die sich im Laufe von Jahrzehnten vorbereiten. Lenin vertraut nicht dem Zentralkomitee - ohne Lenin: darin liegt der Schlüssel zu seinen Briefen aus der Illegalität. Und Lenin hat gar nicht so unrecht in seinem Mißtrauen.
Gezwungen, sich in den meisten Fällen nach bereits gefaßtem Beschluß in Petrograd zu äußern, kritisiert Lenin unablässig von links die Politik des Zentralkomitees. Seine Opposition entwickelt sich auf dem Hintergrunde der Frage des Aufstandes, beschränkt sich aber nicht auf sie. Lenin meint, das Zentralkomitee widme zuviel Aufmerksamkeit dem versöhnlerischen Exekutivkomitee, der Demokratischen Beratung, wie überhaupt dem parlamentarischen Treiben in den Sowjetgipfeln. Er tritt scharf auf gegen den Vorschlag der Bolschewiki betreffs eines Koalitionspräsidiums im Petrograder Sowjet. Er brandmarkt den "schändlichen" Beschluß betreffs Teilnahme am Vorparlament. Er ist entrüstet über die Ende September veröffentlichte Liste der bolschewistischen Kandidaten für die Konstituierende Versammlung: zuviel Intellektuelle, zu wenig Arbeiter. "Mit Rednern und Literaten die Konstituierende Versammlung zu füllen, heißt den ausgetretenen Weg des Opportunismus und Chauvinismus gehen. Das ist der III. Internationale unwürdig." Außerdem seien unter den Kandidaten zuviel neue, im Kampfe nicht erprobte Parteimitglieder! Lenin hält es für notwendig, einen Vorbehalt zu machen: "Es versteht sich von selbst, daß ... niemand gegen eine Kandidatur, beispielsweise L.D. Trotzkis, Einwände erheben könnte, denn erstens hat Trotzki sogleich nach seiner Ankunft die Position eines Internationalisten eingenommen; zweitens unter den Interrayonisten für eine Verschmelzung gekämpft; drittens hat er sich in den schweren Julitagen auf der Höhe der Aufgabe und als treuer Anhänger der Partei des revolutionären Proletariats gezeigt. Es ist klar, daß man dies von zahlreichen, in die Liste aufgenommenen gestrigen Parteimitgliedern nicht sagen kann ... "
Es könnte scheinen, die Apriltage seien zurückgekehrt:
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