Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
zeitigte bald Resultate: davon hörten wir von Dybenko. Hinzuziehung der baltischen Seeleute zur Teilnahme am Hauptschlag gegen die Regierung ist ebenfalls in den später angenommenen Plan eingegangen. Doch nicht das ist die Hauptsache: durch die bis aufs äußerste zugespitzte Fragestellung erlaubte Lenin niemand auszuweichen oder zu lavieren. Was sich für einen direkten taktischen Vorschlag als unzeitgemäß erwies, gestaltete sich zweckmäßig als Nachprüfung der Stimmungen im Zentralkomitee, als Unterstützung der Entschlossenen gegen die Schwankenden, als ergänzender Stoß nach links.
Mit allen Mitteln, über die man in der Isolierung der Illegalität verfügen konnte, war Lenin bestrebt, die Parteikader die Schärfe der Situation und die Kraft des Massendrucks fühlen zu lassen. Er berief einzelne Bolschewiki in seinen Schlupfwinkel, veranstaltete peinlichste Verhöre, überprüfte Worte und Handlungen der Führer, ließ auf Umwegen seine Parolen in die Partei, nach unten, in die Tiefe, dringen, um das Zentralkomitee vor die Notwendigkeit zu stellen, zu handeln und bis ans Ende zu gehen.
Am Tage nach seinem Brief an Smilga schreibt Lenin das bereits oben zitierte Dokument "Die Krise ist reif", das er mit einer Art Kriegserklärung an das Zentralkomitee abschließt. "Man muß ... die Wahrheit zugeben, daß bei uns im Zentralkomitee und in den Parteispitzen eine Strömung oder Meinung besteht, die für das Abwarten des Sowjetkongresses, gegen sofortige Machtübernahme, gegen sofortigen Aufstand ist." Diese Strömung müsse um jeden Preis überwunden werden. "Besiegt zuerst Kerenski, dann ruft den Kongreß ein." In Erwartung des Sowjetkongresses Zeit zu verlieren, ist "vollendete Idiotie oder vollendeter Verrat ..." Bis zu dem auf den 20. angesetzten Kongreß bleiben mehr als zwanzig Tage: "Wochen und sogar Tage entscheiden jetzt alles." Die Lösung hinauszuziehen, heißt feige auf den Aufstand verzichten, denn während des Kongresses wird die Machtergreifung unmöglich werden: "Man wird für den Tag des einfältig "angesetzten" Aufstandes Kosaken aufbieten."
Schon allein der Ton des Briefes zeigt, wie verhängnisvoll Lenin das Zögern der Petrograder Führung schien. Doch beschränkt er sich diesmal nicht auf wütende Kritik, sondern kündet als Protest seinen Austritt aus dem Zentralkomitee an. Motive: das Zentralkomitee habe seit Beginn der Beratung auf Lenins Drängen bezüglich der Machtergreifung nicht reagiert; die Redaktion des Parteiorgans (Stalin) drucke seine Artikel mit absichtlichen Verschleppungen und streiche aus ihnen Hinweise auf solche "himmelschreienden Fehler der Bolschewiki wie der schändliche Beschluß, sich am Vorparlament zu beteiligen", und so weiter. Diese Politik vor der Partei zu decken, hält Lenin nicht für möglich: "Ich bin gezwungen, um meinen Austritt aus dem Zentralkomitee zu ersuchen, was ich hiermit auch tue, und mir die Freiheit der Agitation in den unteren Parteischichten und auf dem Parteikongreß vorzubehalten."
Die Dokumente lassen nicht erkennen, wie sich der formale Verlauf der Sache weiter entwickelte. Aus dem Zentralkomitee trat Lenin jedenfalls nicht aus. Durch die Austrittserklärung, die bei Lenin keineswegs Frucht momentaner Gereiztheit sein konnte, wollte Lenin sich offenbar die Möglichkeit lassen, im Notfalle an die innere Disziplin des Zentralkomitees nicht gebunden zu sein: er konnte nicht daran zweifeln, daß, wie im April, der unmittelbare Appell an die unteren Schichten ihm den Sieg sichern würde. Aber der Weg der offenen Rebellion gegen das Zentralkomitee setzte die Vorbereitung eines außerordentlichen Kongresses voraus, erforderte folglich Zeit; und gerade an Zeit fehlte es. Seine Austrittserklärung bereithaltend, ohne jedoch die Grenzen der Parteilegalität völlig zu verlassen, fährt Lenin fort, bereits mit größerer Freiheit den Angriff auf den inneren Operationslinien weiter zu entwickeln. Seine Briefe an das Zentralkomitee schickt er nicht nur an das Petrograder und das Moskauer Komitee, sondern sorgt auch dafür, daß Kopien in Hände der zuverlässigsten Genossen in den Bezirken geraten. Anfang Oktober schreibt Lenin, bereits unter Umgehung des Zentralkomitees, unmittelbar an das Petrograder und das Moskauer Komitee: "Die Bolschewiki haben nicht das Recht, auf den Sowjetkongreß zu warten, sie müssen die Macht sofort ergreifen ... Zögern - ist Verbrechen. Auf den Sowjetkongreß warten, ist Kinderspiel mit Formalitäten,
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