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Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Trotzki
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hält diese Erklärung für einen Fehler." Es stellt sich heraus, daß Stalin allein - gegen das andere Redaktionsmitglied und die Mehrheit des Zentralkomitees - Kamenjew und Sino-wjew im kritischsten Moment, vier Tage vor dem Aufstand, durch eine Sympathieerklärung unterstützt hatte. Die Empörung war groß.
    Stalin sprach gegen Kamenjews Demission und versuchte nachzuweisen, daß "unsere gesamte Lage widerspruchsvoll ist", das heißt, er übernahm die Verteidigung jener Verwirrung, die von Mitgliedern des Zentralkomitees, die gegen den Aufstand auftraten, in die Köpfe getragen wurde. Mit fünf gegen drei Stimmen wird Kamenjews Rücktrittsgesuch angenommen. Mit sechs Stimmen, wiederum gegen Stalin, wird ein Beschluß gefaßt, der Kamenjew und Sinowjew verbietet, gegen die Politik des Zentralkomitees einen Kampf zu führen. Das Protokoll lautet: "Stalin erklärt seinen Austritt aus der Redaktion." Um die ohnehin nicht leichte Lage nicht zu verschärfen, lehnt das Zentralkomitee Stalins Demission ab.
    Stalins Verhalten mag unerklärlich erscheinen im Licht der um ihn geschaffenen Legende; in Wirklichkeit entspricht es völlig seinem geistigen Wesen und seinen politischen Methoden. Vor großen Problemen zieht sich Stalin stets zurück -nicht infolge mangelnden Charakters wie Kamenjew, sondern infolge der Enge seines Horizonts und des Mangels an schöpferischer Phantasie. Lauernde Vorsicht zwingt ihn fast organisch, in Momenten großer Entschlüsse und tiefer Meinungsverschiedenheiten in den Schatten zu treten, abzuwarten und womöglich sich für zwei Fälle zu versichern. Stalin stimmte mit Lenin für den Aufstand. Sinowjew und Kamenjew kämpften offen gegen den Aufstand. Doch - läßt man die "Schärfe des Tones" der Leninschen Kritik beiseite - "bleiben wir im wesentlichen Gesinnungsgenossen". Seine Anmerkung hatte Stalin keinesfalls aus Leichtsinn gemacht: im Gegenteil, er hatte sorgfältig Umstände und Worte erwogen. Aber am 20. Oktober hielt er es nicht für möglich, unwiderruflich die Brücke zum Lager der Aufstandsgegner abzubrechen.
    Die Angaben der Protokolle, die wir nicht nach dem Original, sondern nach dem offiziellen, in der Stalinschen Kanzlei bearbeiteten Text zu zitieren gezwungen sind, zeigen nicht nur die tatsächliche Verteilung der Figuren im bolschewistischen Zentralkomitee, sondern entrollen vor uns auch, trotz Kürze und Trockenheit, das wahre Panorama der Parteileitung, wie sie in der Wirklichkeit war: mit all ihren inneren Widersprüchen und unvermeidlichen persönlichen Schwankungen. Nicht nur die Geschichte in ihrer Gesamtheit, sondern auch deren kühnste Umwälzungen werden von Menschen vollzogen, denen nichts Menschliches fremd ist. Kann das die Bedeutung des Vollbrachten beeinträchtigen? Würde man auf einer Leinwand den glänzendsten der Siege Napoleons abrollen, der Filmstreifen würde uns neben Genialität, Schwung, Scharfsinn, Heroismus - auch Unentschlossenheit einzelner Marschälle zeigen, Verwirrung der Generale, die Karten nicht lesen können, Stumpfsinn der Offiziere und Panik ganzer Abteilungen bis inklusive Darmerkrankungen aus Angst. Dieses realistische Dokument würde nur dafür Zeugnis ablegen, daß Napoleons Armee nicht aus Automaten einer Legende bestand, sondern aus lebendigen Franzosen, erzogen an der Wende zweier Jahrhunderte. Und das Bild menschlicher Schwächen würde nur das Grandiose des Ganzen greller unterstreichen.
    Es ist leichter, über eine Umwälzung nachträglich zu theoretisieren, als sie in Fleisch und Blut in sich aufzunehmen, bevor sie sich vollzogen hat. Das Herannahen eines Aufstandes hat stets unvermeidlich Krisen in den Parteien des Aufstandes hervorgerufen und wird sie hervorrufen. Davon zeugt die Erfahrung der gestähltesten und revolutionärsten Partei, die die Geschichte je gekannt hat. Es genügt die Tatsache, daß Lenin wenige Tage vor der Schlacht sich gezwungen sah, den Ausschluß zweier seiner nächsten und angesehensten Schüler zu fordern. Spätere Versuche, den Konflikt durch "Zufälle" persönlichen Charakters zu bagatellisieren, sind von rein kirchlicher Idealisierung der Parteivergangenheit suggeriert. Wie Lenin vollständiger und entschiedener als die anderen in den Herbstmonaten 1917 die objektive Notwendigkeit des Aufstandes und den Willen der Massen zur Umwälzung ausdrückte, so verkörperten Sinowjew und Kamenjew offenherziger als die anderen die bremsenden Tendenzen der Partei, Stimmungen der Unentschlossenheit. Einflüsse

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