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Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution

Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution

Titel: Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Trotzki
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möglich, daß man gerade jetzt die Macht ohne Aufstand übernehmen kann ..." Mit anderen Worten, Lenin ließ den Gedanken zu, daß eine "stille" Umwälzung schon vor dem 9. sich vollzogen hätte, und zwar nicht zu neun, sondern zu zehn Zehntel, Er begriff jedoch, daß man diese optimistische Hypothese nicht anders als durch die Tat nachprüfen könne. Deshalb sagte Lenin im gleichen Brief: "Kann man die Macht nicht ohne Aufstand übernehmen, dann muß man an den Aufstand sofort herangehen." Und ebendiese Frage wurde am 10., 16. und an den übrigen Tagen erwogen.
    Die neueste Sowjet-Historiographie hat aus der Oktoberrevolution völlig das äußerst bedeutsame und lehrreiche Kapitel über Lenins Meinungsverschiedenheiten mit dem Zentralkomitee gestrichen, sowohl im Grundsätzlichen und Prinzipiellen, wo Lenin recht hatte, wie auch in jenen partiellen, aber äußerst wichtigen Fragen, wo das Recht auf seiten des Zentralkomitees war: nach der neuen Doktrin konnten weder das Zentralkomitee noch Lenin irren, mithin konnte es zwischen ihnen auch keine Konflikte geben. In den Fällen, wo Meinungsverschiedenheiten nicht abzuleugnen sind, werden sie, einer allgemeinen Vorschrift entsprechend, auf Trotzki übertragen.
    Die Tatsachen aber sprechen anders. Lenin drängte auf Einleitung des Aufstandes in den Tagen der Demokratischen Beratung: nicht ein Mitglied des Zentralkomitees unterstützte ihn. Eine Woche später schlug Lenin Smilga vor, den Aufstandsstab in Finnland zu organisieren und von dort mit den Kräften der Seeleute einen Schlag gegen die Regierung zu führen. Nach weiteren zehn Tagen drängte er darauf; den Nordkongreß zum Ausgangsmoment des Aufstandes zu machen. Auf dem Kongreß unterstützte niemand diesen Vorschlag. Lenin betrachtete Ende September ein Hinausziehen des Aufstandes um drei Wochen, bis zum Sowjetkongreß, als verhängnisvoll. Indes endete der Aufstand, vertagt bis zum Vorabend des Kongresses, während dessen Tagung. Lenin hatte vorgeschlagen, den Kampf in Moskau zu eröffnen, in der Annahme, dort werde sich die Sache ohne Waffengang entscheiden. In Wirklichkeit dauerte der Aufstand in Moskau, trotz dem vorangegangenen Sieg in Petrograd, acht Tage und forderte viele Opfer.
    Lenin war kein Automat für unfehlbare Beschlüsse. Er war "nur" ein genialer Mensch, und nichts Menschliches war ihm fremd, darunter auch nicht die Eigenschaft, zu irren. Lenin sagt über das Verhältnis von Epigonen zu großen Revolutionären: "Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Heiligenbilder zu verwandeln, sozusagen sie zu kanonisieren, ihrem Namen einen gebührenden Ruhm zu belassen ...", um sie in Wirklichkeit desto gefahrloser zu verraten. Die Epigonen fordern Anerkennung der Unfehlbarkeit Lenins, um desto leichter dieses Dogma auf sich selbst übertragen zu können. [1]
    Was Lenins Politik charakterisierte, war die Verbindung von kühnen Perspektiven mit sorgfältiger Einschätzung kleiner Tatsachen und Symptome. Lenins Isoliertheit hinderte ihn nicht, mit unvergleichlicher Tiefe die grundlegenden Etappen und Wendungen der Bewegung festzustellen, nahm ihm aber die Möglichkeit, episodische Faktoren und konjunkturmäßige Veränderungen rechtzeitig einzuschätzen. Die politische Situation war im allgemeinen derart günstig für den Aufstand, daß sie die Möglichkeit eines Sieges unter mannigfachen Varianten zuließ. Wäre Lenin in Petrograd gewesen und hätte er Anfang Oktober den Beschluß über den sofortigen Aufstand durchgesetzt, unabhängig vom Sowjetkongreß, er hätte zweifellos die Durchführung seines eigenen Planes politisch derart gestaltet, daß dessen Nachteile auf ein Minimum hinausgelaufen wären. Aber es ist mindestens ebenso wahrscheinlich, daß er in diesem Falle selbst jenen Plan gewählt hätte, der tatsächlich durchgeführt wurde.
    Die Einschätzung der Rolle Lenins in der Gesamtstrategie der Umwälzung haben wir in einem besonderen Kapitel gegeben. Um unsern Gedanken über die taktischen Vorschläge Lenins zu präzisieren, wollen wir hinzufügen: ohne Lenins Druck, ohne sein Drängen, seine Vorschläge und Varianten würde sich das Beschreiten des Weges zum Aufstande mit unermeßlich größeren Schwierigkeiten vollzogen haben; wäre Lenin in den kritischen Wochen im Smolny gewesen, die Gesamtleitung des Aufstandes hätte, und zwar nicht nur in Petrograd, sondern auch in Moskau, ein bedeutend höheres Niveau gehabt; doch Lenin in der "Emigration" konnte nicht Lenin im Smolny

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