Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
jetzt alles an einem Haar hängt, daß auf der Tagesordnung Fragen stehen, die nicht durch Beratungen, nicht durch Kongresse (seien es auch Sowjetkongresse) entschieden werden, sondern ausschließlich durch die Völker, durch die Masse, durch den Kampf bewaffneter Massen ... Man muß um jeden Preis heute abend, heute nacht die Regierung verhaften, indem man die Junker und so weiter entwaffnet (wenn sie Widerstand leisten, sie niederringt)." Lenin befürchtet in solchem Maße Unentschlossenheit seitens des Zentralkomitees, daß er versucht, im allerletzten Moment einen Druck von unten zu organisieren. "Es ist notwendig", schreibt er, "daß alle Bezirke, alle Regimenter, alle Kräfte sofort mobilisiert werden und unverzüglich Delegationen in das Militärische Revolutionskomitee, in das Zentralkomitee der Bolschewiki entsenden mit der dringenden Forderung: auf keinen Fall die Macht in den Händen der Kerenski & Co. bis zum 25. zu lassen, unter keinen Umständen - die Sache muß unbedingt heute, abends oder nachts, entschieden werden." Während Lenin diese Zeilen schrieb, waren die Regimenter und Bezirke, die er aufrief; sich für einen Druck auf das Militärische Revolutionskomitee zu mobilisieren, von diesem bereits mobilisiert für die Eroberung der Stadt und den Sturz der Regierung. Aus dem Brief, in dem jede Zeile von Besorgnis und Leidenschaft bebt, ist jedenfalls erkennbar, daß Lenin weder am 21. die Verschiebung des Aufstandes bis zum 25. vorgeschlagen noch an der Morgensitzung vom 24. teilgenommen haben konnte, wo beschlossen worden war, sofort zum Angriff überzugehen.
Der Brief enthält immerhin ein rätselhaftes Element: wie konnte Lenin, der sich im Wyborger Bezirk verbarg, bis zum Abend von einem so außerordentlich wichtigen Beschluß keine Kenntnis gehabt haben? Aus der Erzählung des gleichen Sweschnikow wie aus anderen Quellen ist ersichtlich, daß die Verbindung mit Lenin an diesem Tage durch Stalin unterhalten wurde. Es bleibt nur die Vermutung übrig, daß Stalin, der in der Morgensitzung des Zentralkomitees nicht erschienen war, bis zum Abend von dem gefaßten Beschluß nichts erfahren hatte.
Unmittelbarer Anstoß zu Lenins Besorgnis konnten auch die bewußt und beharrlich an diesem Tage vom Smolny aus verbreiteten Gerüchte gewesen sein, vor Beschluß des Sowjetkongresses würden keine entscheidenden Schritte unternommen werden. Am Abend dieses Tages sagte Trotzki in einer außerordentlichen Sitzung des Petrograder Sowjets bei einem Bericht über die Tätigkeit des Militärischen Revolutionskomitees: "Ein bewaffneter Konflikt heute oder morgen gehört nicht in unsere Pläne hinein - an der Schwelle des allrussischen Sowjetkongresses. Wir glauben, daß der Kongreß unsere Parole mit größter Kraft und Autorität durchführen wird. Wenn die Regierung aber versuchen sollte, die Frist, die ihr zu leben noch geblieben ist - vierundzwanzig, achtundvierzig oder zweiundsiebzig Stunden -, auszunutzen, um der Revolution das Messer in den Rücken zu stoßen, so werden wir Schlag mit Schlag und Eisen mit Stahl parieren." Das war das Leitmotiv des ganzen Tages. Die Defensiverklärungen hatten zur Aufgabe, im letzten Moment vor dem Schlage die ohnehin nicht übermäßig aktive Wachsamkeit des Gegners einzuschläfern. Und ebendieses Manöver gab aller Wahrscheinlichkeit nach Dan Veranlassung, Kerenski in der Nacht auf den 25. zu versichern, die Bolschewiki dächten in diesem Augenblick keinesfalls an einen Aufstand. Andererseits aber konnte auch Lenin, wenn ihn eine dieser beruhigenden Erklärungen des Smolny erreichte, im Zustande gespannten Mißtrauens die Kriegslist für bare Münze nehmen.
List bildet ein notwendiges Element der Kriegskunst. Schlimm indes ist jene List, die gleichzeitig das eigene Lager zu täuschen vermag. Hätte es sich darum gehandelt, die Massen insgesamt auf die Straße zu rufen, die Worte von den "nächsten zweiundsiebzig Stunden" hätten unheilvolle Wirkung ausüben können. Doch am 24. bedurfte die Umwälzung bereits nicht mehr revolutionärer Aufrufe ohne Adresse. Bewaffnete Abteilungen, bestimmt für Besetzung der wichtigsten Punkte der Hauptstadt, standen bereit und warteten auf das Aufstandssignal ihrer durch Telephon mit den nächsten revolutionären Stäben verbundenen Kommandeure. Unter diesen Umständen war die zweischneidige Kriegslist des Revolutionsstabes durchaus am richtigen Platze.
In den Fällen, wo die offiziellen Forscher auf ein unangenehmes Dokument stoßen,
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