Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
gewissen Grade ist es auch so: eine außerordentlich psychische Spannung verbraucht die Menschen schnell. Viel wichtiger ist jedoch ein anderer Umstand: die siegreiche Revolution verändert radikal die Lage der gestrigen Revolutionäre, schläfert deren wissenschaftlichen Eifer ein, versöhnt sie mit der Schablone und läßt sie den gestrigen Tag unter dem Einfluß neuer Interessen einschätzen. So verschleiert das Gewebe der bürokratischen Legende immer dichter die wirklichen Umrisse der Ereignisse.
Im Jahre 1924 versuchte der Autor dieses Buches in seiner Arbeit Die Lehren des Oktober klarzulegen, weshalb Lenin gezwungen war, während er die Partei zum Aufstande führte, mit solcher Schärfe gegen den rechten Flügel, verkörpert durch Sinowjew und Kamenjew, zu kämpfen. Stalin erwiderte darauf: "Waren damals Meinungsverschiedenheiten in unserer Partei? Ja; sie waren da. Doch trugen sie ausschließlich sachlichen Charakter, entgegen den Behauptungen Trotzkis, der einen "rechten" und einen "linken" Flügel der Partei zu entdecken bemüht ist ..." "Trotzki versichert, daß wir in der Person Kamenjews und Sinowjews im Oktober einen rechten Flügel unserer Partei hatten ... Wie konnte es geschehen, daß die Meinungsverschiedenheiten mit Kamenjew und Sinowjew nur wenige Tage dauerten? ... Eine Spaltung hat es nicht gegeben, die Meinungsverschiedenheiten aber währten deshalb und nur deshalb im ganzen wenige Tage, weil wir in Kamenjew und Sinowjew Leninisten, Bolschewiki besaßen." Hat nicht Stalin genauso sieben Jahre zuvor, fünf Tage vor dem Aufstand, Lenin übertriebener Schärfe beschuldigt und behauptet, Sinowjew und Kamenjew ständen auf dem gemeinsamen Boden des "Bolschewismus"? Durch Stalins sämtliche Zickzacks zieht sieh eine gewisse Kontinuität, die sieh nicht aus durchdachter Weltanschauung, sondern aus der gesamten Charakteranlage ergibt. Sieben Jahre nach der Umwälzung, wie am Vorabend des Aufstandes, konnte er sich in gleicher Weise nur unklar die Tiefe der Meinungsverschiedenheiten in der Partei vorstellen.
Prüfstein für einen revolutionären Politiker ist die Frage des Staates. In ihrem gegen den Aufstand gerichteten Brief vom 11. Oktober schrieben Sinowjew und Kamenjew: "Bei einer richtigen Taktik können wir ein Drittel und auch mehr Plätze in der Konstituierenden Versammlung bekommen ... Konstituierende Versammlung und Sowjets - das ist jener kombinierte Typus der Staatsinstitution, dem wir entgegengehen." "Richtige Taktik" bedeutete Verzieht auf Machteroberung durch das Proletariat. "Kombinierter Typus" des Staates bedeutete Verbindung der Konstituierenden Versammlung, in der die bürgerlichen Parteien zwei Drittel bilden, mit den Sowjets, in denen die Partei des Proletariats herrscht. Dieser Typus des kombinierten Staates lag späterhin der Hilferdingschen Idee zugrunde, die Räte in der Weimarer Verfassung zu verankern. General von Lissingen, Oberbefehlshaber in den Marken, der am 7. November 1918 die Bildung von Räten aus dem Grunde verbot, "weil diese Institutionen der bestehenden Staatsordnung widersprechen", bewies jedenfalls unvergleichlich größten Scharfsinn als die Austromarxisten und die deutsche Unabhängige Partei.
Daß die Konstituierende Versammlung in den Hintergrund treten würde, hatte Lenin bereits seit April vorausgesagt; dennoch verzichteten weder er noch die Partei in ihrer Gesamtheit während des ganzen Jahres 1917 formell auf die Idee der demokratischen Vertretung: man konnte nicht im voraus mit Bestimmtheit sagen, wie weit die Revolution kommen würde. Man nahm an, es würde den Sowjets nach Übernahme der Macht schnell genug gelingen, Armee und Bauern zu gewinnen, so daß die Konstituierende Versammlung, vor allem bei Erweiterung des Wahlrechts (Lenin schlug insbesondere vor, das Wahlalter auf achtzehn Jahre herabzusetzen), den Bolschewiki eine Mehrheit bringen und nur die formelle Krönung des Sowjetregimes darstellen würde. In diesem Sinne sprach Lenin manchmal vom "kombinierten Typus" des Staates, das heißt von der Anpassung der Konstituierenden Versammlung an die Sowjetdiktatur. In Wirklichkeit nahm die Entwicklung einen anderen Weg. Trotz Lenins Drängen entschloß sich das Zentralkomitee nach der Machteroberung nicht, die Einberufung der Konstituierenden Versammlung um einige Wochen zu vertagen, und anders war es unmöglich, das Wahlrecht zu erweitern und vor allem den Bauern Gelegenheit zu geben, ihre Stellung zu den Sozialrevolutionären und Bolschewiki
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