Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
Bolschewiki, denen seit den Julitagen der Zutritt zu den Kasernen offiziell verboten war, stellte man jetzt bereitwillig Passierscheine aus: ohne Bolschewiki konnte man die Soldaten nicht gewinnen. Während auf offener Bühne Menschewiki und Sozialrevolutionäre mit der Bourgeoisie über Schaffung einer festen Macht gegen die von den Bolschewiki geleiteten Massen verhandelten, bereiteten hinter den Kulissen die gleichen Menschewiki und Sozialrevolutionäre gemeinsam mit den von ihnen zur Beratung nicht zugelassenen Bolschewiki die Massen auf den Kampf gegen die Verschwörung der Bourgeoisie vor. Die Versöhnler, die sich noch gestern dem Demonstrationsstreik widersetzt hatten, riefen heute die Arbeiter und Soldaten auf, zum Kampfe zu rüsten. Die verachtungsvolle Empörung der Massen hinderte diese nicht, auf die Aufforderung mit einer Kampfbereitschaft zu reagieren, die die Versöhnler mehr erschreckte als erfreute. Die schreiend krasse Zwiespältigkeit, die den Charakter eines fast offenen Treubruches nach zwei Richtungen hin annahm, wäre unbegreiflich, würden die Versöhnler ihre Politik bewußt getrieben haben; in Wirklichkeit hatten sie nur deren Folgen zu erdulden. Große Ereignisse hingen merklich in der Luft. Aber in den Tagen der Beratung war die Umwälzung offenbar von niemand geplant gewesen. Jedenfalls findet sich keine Bestätigung der Gerüchte, auf die sich Kerenski später berief, weder in Dokumenten, noch in der Versöhnlerliteratur, noch in den Memoiren des rechten Flügels. Es handelte sich einstweilen nur um die Vorbereitungen. Nach Miljukows Worten - und seine Angaben decken sich mit der weiteren Entwicklung der Ereignisse - hatte Kornilow selbst bereits vor der Beratung das Datum seines Vorgehens gewählt: den 27. August. Dieses Datum war selbstverständlich nur wenigen bekannt. Die Halbeingeweihten rückten, wie stets in solchen Fällen, den Tag der großen Ereignisse näher heran, und die vorauseilenden Gerüchte liefen von allen Seiten bei den Behörden ein: es schien, als müsse sich der Schlag die nächste Stunde entladen.
Aber gerade die erregte Stimmung der Bourgeoisie und Offizierskreise hätte in Moskau leicht, wenn nicht zum Versuch einer Umwälzung, so doch zu einer konterrevolutionären Demonstration zwecks Kraftprobe führen können. Noch wahrscheinlicher wäre der Versuch gewesen, aus der Mitte der Beratung heraus irgendein mit den Sowjets konkurrierendes Zentrum für die Rettung des Vaterlandes zu schaffen: davon sprach die rechte Presse ganz offen. Aber auch hierzu kam es nicht: die Massen verhinderten es. Mochte auch manchem der Gedanke vorgeschwebt haben, die Entscheidungsstunde zu beschleunigen, so mußte man sich unter dem Schlag des Streiks doch sagen: die Revolution zu überraschen, wird nicht gelingen, die Arbeiter und Soldaten sind auf der Hut, man muß es vertagen. Sogar die Volksprozession zum Iwerschen Heiligenbild, von Popen und Liberalen im Einverständnis mit Kornilow geplant wurde abgesagt.
Sobald sie erkannten, daß keine unmittelbare Gefahr bestand, beeilten sich Sozialrevolutionäre und Menschewiki so zu tun, als sei nichts Besonderes geschehen. Sie weigerten sich sogar, den Bolschewiki die Passierscheine für die Kasernen zu erneuern, obwohl man von dort dringend bolschewistische Redner verlangte. "Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan", dürften sich mit pfiffiger Miene Zeretelli, Dan und Chintschuk, der damalige Vorsitzende des Moskauer Sowjets, gesagt haben. Die Bolschewiki gedachten aber gar nicht in die Lage des Mohren überzugehen. Sie waren erst daran, ihre Schuldigkeit zu tun.
Jede Klassengesellschaft benötigt einen einheitlichen Regierungswillen. Die Doppelherrschaft ist dem Wesen nach das Regime der sozialen Krise: die höchste Zerklüftung einer Nation darstellend, birgt sie in sich den offenen oder potentiellen Bürgerkrieg Keiner wollte länger die Doppelherrschaft. Im Gegenteil, alle sehnten sich nach einer starken, einigen "eisernen" Macht. Die Juliregierung Kerenskis war ausgestattet mit unbeschränkten Vollmachten Die stille Absicht war, über Demokratie und Bourgeoisie, die einander paralysierten, mit beiderseitigem Einverständnis eine "richtige" Macht zu stellen. Die Idee eines über den Klassen stehenden Schicksallenkers ist nichts anderes als die Idee des Bonapartismus.
Steckt man symmetrisch zwei Gabeln in einen Korken, dann kann er bei starken Schwankungen nach beiden Seiten sich sogar auf einem Stecknadelkopf halten: das eben ist
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