Geschichte der russischen Revolution Bd.2 - Oktoberrevolution
dürfe die Sowjets nicht abschaffen: nur sie hätten das Land vor Anarchie bewahrt. Man dürfe die Armeekomitees nicht abschaffen: nur sie wären fähig, die Fortsetzung des Krieges zu sichern, Die privilegierten Klassen müßten auf manches verzichten im Interesse der Gesamtheit. Jedoch seien die Interessen der Gutsbesitzer vor Expropriationen zu schützen. Die Lösung nationaler Fragen müsse man bis zur Konstituierenden Versammlung vertagen. Die unaufschiebbarsten Reformen indes müsse man durchführen. Von aktiver Friedenspolitik sagte die Deklaration kein Wort. Überhaupt war das Dokument gleichsam speziell darauf berechnet, ohne die Bourgeoisie zufriedenzustellen, die Empörung der Massen hervorzurufen.
In einer ausweichenden und farblosen Rede erinnerte der Vertreter des Bauern-Exekutivkomitees an die Parole "Land und Freiheit", unter der "unsere besten Streiter umgekommen sind". Der Bericht einer Moskauer Zeitung vermerkt eine Episode, die aus dem offiziellen Stenogramm herausgeblieben ist: "Der ganze Saal erhebt sich und bringt eine stürmische Ovation den in einer Loge sitzenden Schlüsselburgern dar." Eine merkwürdige Grimasse der Revolution! "Der ganze Saal" ehrt jene ehemaligen politischen Katorgasträflinge, die Alexejews, Kornilows, Kaledins, die des Bischofs Platon, Rodsjankos, Gutschkows und im Grunde auch Miljukows Monarchie in ihren Gefängnissen zu erdrosseln noch nicht Zeit gefunden hatte. Die Henker oder deren Komplicen möchten sich mit der Märtyreraureole der eigenen Opfer schmücken.
Fünfzehn Jahre zuvor hatten die Führer der rechten Saalhälfte das zweihundertjährige Jubiläum der Eroberung der Festung Schlüsselburg durch Peter I. gefeiert. Die Iskra, das Blatt des revolutionären Flügels der Sozialdemokratie, schrieb in jenen Tagen: "Wieviel Empörung weckt in der Brust diese patriotische Feier auf der verfluchten Insel, die der Hinrichtungsplatz von Minakow, Myschkin, Rogatschew, Stromberg, Uljanow, Generalow, Ossipanow, Andrjuschkin und Schewyrew gewesen ist; angesichts der steinernen Särge, in denen Klimenko sich mit einem Strick erdrosselte, Grat-schewski sich mit Petroleum begoß und verbrannte, Sofia Ginsburg sich mit einer Schere erstach; unter den Mauern, hinter denen Schtschedrin, Juwatschew Konaschewitsch, Pochitinow, Ignatij Iwanow, Arontschik und Tichonowitsch in die endlose Nacht des Wahnsinns versanken und Dutzende anderer vor Erschöpfung, Skorbut und Schwindsucht umkamen. Gebt euch patriotischen Bacchanalen hin, denn heute seid ihr noch die Herren in Schlüsselburg!" Das Motto der Iskra waren Worte aus einem Briefe der Katorga-Dekabristen an Puschkin: "Aus dem Funken wird die Flamme auflodern." Sie ist aufgelodert. Sie hat die Monarchie und ihr Schlüsselburger Zuchthaus in Asche verwandelt. Und heute bereiten im Saale der Staatsberatung die gestrigen Zuchthauswärter eine Ovation den durch die Revolution ihren Krallen entrissenen Opfern. Doch das Paradoxeste war immerhin, daß Gefängniswärter und Arrestanten sich vereinen im Gefühl gemeinsamen Hasses gegen die Bolschewiki, gegen Lenin, den einstigen Inspirator der Iskra, gegen Trotzki, den Autor der oben zitierten Zeilen, gegen die rebellischen Arbeiter und ungehorsamen Soldaten, die die Gefängnisse der Republik füllten.
Der Nationalliberale Gutschkow, Vorsitzender der dritter Duma, der seinerzeit die Zulassung der linken Deputierten zur Kommission der Landesverteidigung verhindert hatte und dafür von den Versöhnlern zum ersten Kriegsminister der Revolution ernannt worden war, hielt die interessanteste Rede, in der Ironie allerdings erfolglos, mit Verzweiflung rang. "Weshalb aber ... weshalb", sagte er, auf Kerenskis Worte anspielend, "kamen zu uns die Vertreter der Macht in "tödlicher Bangigkeit" und im "tödlichen Entsetzen", mit krankhaften, ich würde sagen hysterischen Verzweiflungsschreien, weshalb finden diese Unruhe, dieses Entsetzen und diese Schreie, ja weshalb finden sie auch in unserer Seele den gleichen beklemmenden Schmerz der Todesangst?" Im Namen jener, die früher geherrscht, kommandiert, Gnade geübt und gestraft, beichtete der Moskauer Großkaufmann öffentlich Gefühle der "Todesangst". "Diese Macht", rief er, "ist der Schatten einer Macht." Gutschkow hatte recht. Auch er selbst, ehemaliger Partner Stolypins, war nur noch ein Schatten seiner selbst.
Just am Eröffnungstage der Beratung erschien in Gorkis Zeitung eine Darstellung, wie Rodsjanko sich an der Lieferung unbrauchbarer
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