Geschichte der Tuerkei
sich 1921 die wichtigsten militärischen Kampfhandlungen im Westen ab. Ein Vergleich der Truppenstärke beider Kriegsparteien zeigt, dass auf der türkischen Seite viel weniger Soldaten (91.527) standen als auf der griechischen (183.500). Zudem war sie schlechter mit Maschinengewehren (Verhältnis 1:4) und Feldgeschützen (1:2) ausgerüstet als der Gegner. Die Auseinandersetzungen wurden durch die Abwehrkämpfe bei İnönü unweit von Eskişehir im Januar und März eingeleitet. Nach der Niederlage der Griechen gratulierte Atatürk dem siegreichen «Kommandeur der Westfront und Chef des Generalstabs» İsmet Paşa, der ab 1935 den Nachnamen İnönü führen sollte. Im Sommer stießen die Griechen trotzdem über Afyon, Kütahya und Eskişehir in Richtung Ankara vor.
Atatürk ließ sich nach einem eigens verabschiedeten Gesetz zum Oberkommandierenden mit unbegrenzten Vollmachten für den Zeitraum von drei Monaten wählen, während Fevzi (Çakmak) Chef des Generalstabs wurde (eine Position, die er 23 Jahre innehaben sollte). Die bis 1922 tätigen «Unabhängigkeitsgerichte» wurden jetzt Atatürk unmittelbar unterstellt, ausgeschiedene Mitglieder durch ihn ersetzt. Alle Haushalte wurden zu Abgaben in Naturalien verpflichtet: ein Satz Wäsche, ein Paar Strümpfe und Fußbekleidung. Requiriert wurden alle strategischen Güter: Waffen, Munition, Treibstoff und Zugtiere. In der Schlacht am Sakarya, in der sich die Gegner auf nahezu 100 km gegenüberstanden, folgte der Lohn für die türkischen Anstrengungen: Nach 22-tägigen Kämpfen mit schweren Verlusten auf beiden Seiten (3700 türkische und 4000 griechische Tote) musste sich die Invasionsarmee bis Mitte September auf ihre Ausgangsstellungen in Eskişehir und Afyon zurückziehen.
Für Atatürk eröffnete sich nun nach innen und außen ein bedeutender politischer Spielraum. Nach einem Freundschaftsvertrag mit den Transkaukasischen Sowjetrepubliken (Kars-Vertrag vom 13.10.1921) wurde am 20. Oktober mit Paris eineVereinbarung über die Grenze zum französischen Mandatsgebiet Syrien geschlossen. Diese ließ zwar die
Sancak
-Frage offen, erlaubte aber Ankara, Truppen aus dem Südosten an die Westfront zu verlagern. Griechenland hatte trotz seines Rückzugs die Alliierten vergeblich ersucht, Istanbul besetzen zu dürfen. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass der griechische Hochkommissar für İzmir, Aristeidis Stergiadis, ankündigte, einen Staat «Ionien» auszurufen.
Nach langem Stillhalten an der 650 km-Front zwischen Gemlik am Marmarameer und Söke im Menderes-Tal erteilte İsmet Paşa am 18. August den Angriffsbefehl. Bei Dumlupınar schlugen die Türken unter Mustafa Kemals Oberbefehl am 30. August den entscheidenden Teil der Invasionsarmee; deren Führer Trikoupis und Dighenis wurden gefangengenommen. Jetzt drängte London auf einen Waffenstillstand, den Atatürk allenfalls für Thrakien akzeptieren wollte. Einen Tag nach Dumlupınar trafen erste türkische berittene Einheiten in İzmir ein. Ein britischer Vertreter beeilte sich, ihren Kommandanten Nureddin Paşa daran zu erinnern, dass der Kriegszustand mit England schon 1918 beendet worden sei. Auch wenn es zu Plünderungen und Übergriffen kam, verlief der Einmarsch doch verhältnismäßig diszipliniert. Allerdings fiel der Metropolit Chrisostomos schon am Tag der Besetzung einem Lynchmord zum Opfer. Am 13. September brach im armenischen Stadtteil ein Feuer aus, das sich rasch ausbreitete. Der inzwischen eingetroffene Atatürk sah sich gezwungen, in den Vorort Göztepe auszuweichen, wo der wohlhabende Vater seiner zukünftigen Gattin Latife ein Haus hatte. Größere Teile der griechischen Bevölkerung flüchteten auf Schiffe der alliierten Flotte, zahlreiche griechische Soldaten wurden gefangen genommen und in Arbeitsbataillone eingezogen.
Nachdem der letzte griechische Soldat Anatolien verlassen hatte, erwog Patriarch Meletios IV. eine Verlegung seines Amtssitzes nach Athen oder Saloniki. Der vorläufige Schlussstrich unter die Kriegshandlungen wurde am 11. Oktober in Mudanya, einer Kleinstadt am Rande des Marmara-Meers, gezogen. Dem türkischen Verhandlungsführer İsmet İnönü standen die Generäleder drei alliierten Mächte Großbritannien, Frankreich und Italien gegenüber. Da der griechische General Mazarakis seine Teilnahme verweigerte, setzte Sinopolis, der Vertreter Athens in Istanbul, seine Unterschrift unter das 13-Punkte-Abkommen. «Mudanya» bildete nicht nur den Schlusspunkt hinter
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