Geschichte der Tuerkei
10. November 1924 folgte die Erweiterung ihres Namens zu «Republikanische Volkspartei» (
Cumhuriyet Halk Fırkası,
CHF, ab 1935
Cumhuriyet Halk Partisi,
CHP).
Nachdem am 10. Oktober wieder reguläre türkische Einheiten Istanbul betreten hatten, gab es eigentlich kein Hindernis mehr für die Rückverlegung der Regierungszentrale an den Bosporus, doch stand die Wahl Ankaras als Hauptstadt schon im September ebenso fest wie die Ausrufung der Republik, wie Atatürk in einem Interview mit dem Korrespondenten der Wiener
Neuen Freien Presse
am 22. September bekanntgegeben hatte. Nach einer kurzen Beratung der Volkspartei am Vormittag und einer noch kürzeren Sitzung gegen Abend wurde am 29. Oktober durch ein schlichtes «Abänderungsgesetz betreffend die Abänderung einiger Bestimmungen des Verfassungsgesetzes erläuterungshalber» die Republik proklamiert und erwartungsgemäß Atatürk zum ersten Präsidenten der neuen Türkei gewählt (seine Wiederwahl erfolgte 1927, 1931 und 1935). Es gibt in der Geschichte keine Beispiele für eine vergleichbar hastige und auf einem derart schwachen rechtlichen Fundament stehende Republikgründung.Selbst engste Kampfgefährten waren nicht eingeweiht, Rauf erfuhr das Ergebnis aus der Presse.
Ein vollständiges, im Großen und Ganzen bis 1961 gültiges Verfassungsgesetz kam erst am 20. April 1924. Der Artikel, in dem vom Islam als der «Religion des türkischen Staates» die Rede war, wurde mit einem einfachen Abänderungsgesetz vom 10. April 1928 ohne Aufhebens gestrichen.
Für das klassische Kalifat war in einer Republik, die sich als Gegensatz zur Monarchie verstand, kein Raum – allenfalls und rein theoretisch nach Vorbild des modernen Papsttums in einem «vatikanisierten» Areal. Nachdem man anstelle des «Ministeriums für Religiöses Recht und Stiftungen» zwei entsprechende Staatsverwaltungen geschaffen hatte, konnte man auf die verbleibenden, wenig klar beschriebenen Funktionen des Kalifen verzichten. Interessant ist, dass die Aufhebung des Kalifats am 3. März 1924 aus dem Geist der islamischen Staatslehre gerechtfertigt wurde, indem man die
Meclis
zu einer Art überpersönlichem Kalifat erklärte: «Weil das Kalifat an und für sich in dem Inhalt und in dem Begriff Regierung und Republik eingeschlossen ist, wird das Amt des Kalifats abgeschafft.» Der letzte Schritt wurde mit der Ausweisung Abdülmecids vollzogen. Im Freitagsgebet ersetzt bis heute die Fürbitte für das Wohlergehen der Republik die Formel für den Kalifen. Die in den Anfangsjahren bestehenden Skrupel der Frommen, ob ihr Gebet weiterhin Gültigkeit behalte, verflüchtigten sich allmählich. Vor der Tür aber standen für den Alltag des Einzelnen und das Leben der ganzen Nation viel einschneidendere Maßnahmen.
Am 1. November 1924 begann die zweite Legislaturperiode der TBMM. Die prominenten Gegner Atatürks sahen nun den Zeitpunkt zur Gründung einer Oppositionspartei gekommen, die sie unter dem Namen «Freiheitsliebende Republikanische Partei» (
Terakkiperver Cumhuriyet Fırkası,
TCF) beim Innenministerium anmeldeten. Ihre Führung bestand größtenteils aus den zu Gegnern Atatürks gewordenen ehemaligen Kommandanten des Unabhängigkeitskriegs (Kâzım Karabekir, Rauf Orbay und Ali Fuad Cebesoy). Die neue, von etwa 30 Abgeordneten unterstützte Partei gab sich ein liberaldemokratisches Profil.In ihrem programmähnlichen Manifest nahmen Wirtschaftsfragen fast die Hälfte des Textes ein. Zudem versprach sie, «religiöse Glaubenshaltungen und Überzeugungen zu respektieren».
Weniger als drei Friedensjahre waren seit Mudanya vergangen, als mit der sogenannten Scheich Said-Rebellion im Februar 1925 der erste für die junge Republik bedrohliche innere Konflikt ausbrach. Die vom Raum Piran/Dicle (in der Provinz Diyarbakır) ausgehende Kurdenerhebung wird bis heute abwechselnd als «nationalistisch» oder «religiös» charakterisiert. Diese Unterscheidung ist nicht hilfreich, weil beide Motive – wie im von religiöser Rhetorik begleiteten türkischen Unabhängigkeitskrieg – schwer trennbar miteinander verflochten waren. Jedenfalls war die solide türkisch-kurdische Allianz der ersten Jahre, in denen Sätze fielen wie «Nur Türken und Kurden haben das Recht, in der Nationalversammlung zu sprechen», unwiderruflich zerbrochen. Nach 1927 wurde das Wort «Kurde» fast nicht mehr ausgesprochen, sondern nur noch in geheimen Dokumenten benutzt. Ansonsten ersetzte man es in der TBMM durch
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