Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
politische Organisation grundlegend, und zwar auf zweifache Weise: Erstens stärkte sie die Glaubwürdigkeit des Nationalstaats als eines zusammenhängenden Ortes kollektiver Entscheidungsfindung; und zweitens ermöglichte und begünstigte sie neue Koalitionen geschichtlicher Akteure, welche die Führerschaft innerhalb von Staaten übernehmen wollten. Der künftige Premierminister des Piemont, der liberale Graf Benso di Cavour, der entscheidend zur Einigung Italiens beitrug, erkannte diese Auswirkungen: «Die Dampfmaschine ist eine Erfindung, die sich, was das Ausmaß ihrer Folgen angeht, allenfalls mit der des Buchdrucks oder noch besser der Entdeckung des amerikanischen Kontinents vergleichen lässt. Der Einfluss der Eisenbahnen wird sich auf die ganze Welt ausbreiten. In den Ländern, die einen hohen Zivilisationsgrad erreicht haben, werden sie zu einem enormen industriellen Wachstum beitragen; ihre wirtschaftlichen Ergebnisse werden von Anfang an großartig sein, und sie werden den Fortschritt der Gesellschaft beschleunigen. Doch die sittlichen Wirkungen müssen in unseren Augen noch größer sein als die materiellen Effekte, und besonders deutlich bei den Nationen, die ihrem Aufstieg zu modernen Völkern gegenwärtig ein wenig hinterherhinken. Für sie wird die Eisenbahn mehr sein als nur ein Mittel zur Bereicherung, sie wird eine wirkungsvolle Waffe sein, mit deren Hilfe sie die retardierenden Kräfte überwinden werden, welche sie in einem elenden Zustand industrieller und politischer Infantilität halten.»[ 63 ]
Wenn preußische Beamte ihren Staat betrachteten, der sich über Felder und Wälder von der belgischen bis zur russischen Grenze erstreckte, erkannten sie ebenfalls, dass die Eisenbahn ein geographisches Gebilde zusammenhalten würde, das aus sich heraus über wenig Bindekraft verfügte; und die Militärelite begriff, dass man fortan Truppen von einer zur anderen Grenze würde befördern können. 1870 besaß Preußen ein Gerüst aus Eisenbahnlinien, das die Institutionen ergänzte, welche für eine größere staatliche Kohäsion und die potentielle Führungsrolle eines entstehenden deutschen Einheitsstaates geschaffen worden waren. Die Italiener begannen Linien von Nord nach Süd zu bauen, sobald sie nach der Einigung dazu in der Lage waren, auch wenn die Bauern im Süden sehr unter der Steuerlast zu leiden hatten und es deshalb zu wiederkehrenden Aufständen kam.
Für Kanada bedeuteten die ersten Eisenbahnen ein existenzielles Dilemma. Wirtschaftsführer und Politiker mussten entweder dafür sorgen, dass der Staat die Kosten übernahm und die Siedlungen im Westen mit Montreal und weiter dann mit den New Yorker Eisenbahnen und den Häfen am Atlantik verband, oder das Risiko in Kauf nehmen, dass die frischgebackene kanadische Nation in Einzelteile zerfiel, die sich dann den verschiedenen Staaten der USA im Süden anschlossen. Da Großbritannien seine Märkte für Weizen aus allen Gegenden, nicht nur aus seinen eigenen Überseebesitzungen geöffnet hatte, ging es dringlich darum, die Erzeugnisse dorthin absetzen zu können. Die erste wichtige Entscheidung fiel 1849, als ein Eisenbahngarantiegesetz den Bau von Bahnverbindungen nach New York Central erleichterte, womit kanadisches Getreide in eisfreie Häfen gelangen konnte. Zwei Jahre später wurde die Linie zwischen Montreal und Boston eröffnet. Für diejenigen Länder, die sich über einen ganzen Kontinent erstreckten – die USA, Kanada und später dann das Russische Reich –, ließen es die nationalen politischen und wirtschaftlichen Bestrebungen für Pro-Eisenbahn-Koalitionen geboten erscheinen, dass Gleise die ungeheuren Entfernungen von Ost nach West überbrückten (für Argentinien und Chile war ganz ähnlich eine Nord-Süd-Verbindung zwingend). Sobald der Bürgerkrieg beendet war, stückelten die USA 1869 ihre erste transkontinentale Eisenbahnlinie zusammen. Eineinhalb Jahrzehnte später konnte die Fertigstellung der Canadian Pacific Railway als großes nationales Epos gefeiert werden. Sie mag durchaus so etwas wie eine Defensivreaktion gegen die transkontinentalen US-Bahnlinien gewesen sein.[ 64 ]
Der russische Staat stellte die Transsibirische Eisenbahn zwar erst Anfang des 20. Jahrhunderts fertig, aber die fiskalischen Anstrengungen, die dafür nötig waren, sorgten für heftigen Widerstand gegen den reformorientierten Finanzminister Sergei Witte, der das Projekt entschlossen vorantrieb. In China fanden die Eisenbahnbefürworter nicht
Weitere Kostenlose Bücher