Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
und die U. S. Sanitary Commission, die sich im Bürgerkrieg um die Verwundeten des Nordens kümmerte.[ 72 ] Und die Armeen mussten ihre begabten Organisatoren und Ingenieure befördern, nicht nur verwegene Kavalleristen oder diejenigen, deren Familien über Beziehungen verfügten. Länder, die – wie die Briten – an älteren Rekrutierungsmethoden für ihr Offizierskorps festgehalten hatten (etwa dem Kauf von Offizierspatenten), merkten, dass professionelle Ausbildung und Einstellung einer deutlichen Verbesserung bedurften.
Am wichtigsten aber war vielleicht: Die nationalen Einigungskriege brachten Vorstellungen und Praktiken wieder ins Spiel, die davon ausgingen, dass unbewaffnete Bürger an den bewaffneten Konflikten beteiligt waren. Auch in früheren Kriegen hatte es keinen Mangel an vorsätzlichem «Abfackeln» von Gebäuden und Häfen und – zumindest inoffiziell – an Plünderungen und Vergewaltigungen gegeben. Und in den großen Kriegen zwischen 1798 und 1815 waren Zivilisten zum Kriegsdienst verpflichtet worden – am umfassendsten in Frankreich nach 1793, dann aber auch in Nachahmung bei den Preußen 1813/14. Im Krieg, so merkte man außerhalb Großbritanniens, mussten junge Männer dazu verpflichtet werden, ihren Ländern zu dienen. Im Zuge dieser Demokratisierung der Kriegsführung aber kam die Vorstellung auf, dass die Zivilbevölkerung eine Verantwortung dafür trug, dass der Krieg ausgebrochen war oder fortdauerte. Die Idee einer «Nation in Waffen» war ebenfalls von der Französischen Revolution beschworen worden, doch die damit einhergehende Vorstellung von einer Nation als Zielscheibe war nie explizit formuliert worden. Und so kam beispielsweise General William Tecumseh Sherman zu dem Entschluss, die ökonomische Zerstörung einer wohlhabenden Kernregion der Konföderation könnte den Sieg des Nordens über seinen Gegner beschleunigen. Die Deutschen, die 1870 in Frankreich einmarschierten, waren überzeugt, dass französische Zivilisten als irreguläre Streitkräfte zu den Waffen greifen würden, und in der Tat kam es zu beträchtlichen Guerillaaktivitäten, auch nachdem die offiziellen Truppen Napoleons III. besiegt waren.
Kurz: Der Krieg spielte eine zentrale Rolle bei der Neuorganisation von Staaten, Nationen und Imperien Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine Ausnahme war vielleicht Britisch-Nordamerika (Kanada), aber es hatte in den 1830er Jahren immerhin am Rande eines Krieges gestanden. Der moderne Nationalstaat – also die Form, die von den 1850er Jahren bis in die 1970er Jahre vorherrschte – lässt sich nicht vorstellen, ohne dass man die Anwendung von Waffengewalt berücksichtigt, die mit seiner Entstehung einherging – den Einsatz von Sprengkörpern und tödlichen Granatsplittern, die Verstümmelungen junger Menschen und die Zerstörung von Besitz. Die liberalen Staatengründer des 19. Jahrhunderts würden entweder behaupten, sie hätten nicht vor einer solchen Entscheidung gestanden oder sie hätten keine Wahl gehabt. Aber sie waren bereit, diesen Preis zu bezahlen. Andere, weniger Sensible schienen das Ganze als mannhafte Aufgabe positiv zu bewerten. Kriege waren nicht nur ein Weg zum Imperium, sondern gleichzeitig Kämpfe darum, die alten Geschlechterverhältnisse zu Hause zu bestätigen. Das ist mit Sicherheit gelungen, bis dann zumindest im 20. Jahrhundert bei zu vielen ähnlichen Bemühungen auch Frauen rekrutiert werden mussten. Jedenfalls lässt sich die Unverzichtbarkeit von Gewalt nicht mehr ignorieren, ebenso wenig wie man die Rolle zumindest lokaler Genozide für die Aufrechterhaltung eines Großreichs außer Acht lassen kann. In dieser Hinsicht sollten 19. und 20. Jahrhundert ineinander fließen, wie wir weiter unten sehen werden. Und natürlich waren diejenigen, die eine derartige Politik des Genozids initiierten, der Ansicht, dieser Preis sei nötig und es wert, gezahlt zu werden. Um diese Überlegungen zu verstehen, müssen wir vermeiden, unsere humanistischen Skrupel vom Beginn des 21. Jahrhunderts darauf zu projizieren. So wie Terroristen heute noch immer der Überzeugung sind, das Leben des Einzelnen dürfe höheren Prinzipien und Loyalitäten nicht im Weg stehen, so betrachtete man die Geschichte Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als schicksalhafte Kraft: als eine Dampfwalze der Zivilisation und höherer Kulturen, die über die weiter unten stehenden triumphieren müssten.
Für Gott oder Vaterland
Lassen wir die Epoche mit einem drei Wochen dauernden
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