Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
dass es für Katholiken falsch sei, die Lehren des Liberalismus zu übernehmen, und 1869/70 verkündete das Erste Vatikanische Konzil die Unfehlbarkeit des Papstes in Fragen des Glaubens und der Moral. Innerhalb der Kirche oder in der weiten Welt war kein Platz für Demokratie. Der autoritäre französische Katholik Louis Veuillot räumte ein, die Kirche fordere Meinungsfreiheit, um ihre Lehren propagieren zu können, glaube diese Freiheit jedoch anderen verweigern zu können. Rom betrachtete die neue Welt der Staatlichkeit im 19. Jahrhundert als eine Macht zur Plünderung – was sie in der Tat oftmals war – und zur atheistischen Indoktrination von Kindern. Genauso schlimm für die katholische Kirche erschien der Protestantismus angesichts von Preußens Feldzug gegen Österreich – die natürliche Schutzmacht des Papstes, die unglücklicherweise nach 1859 aus Italien vertrieben wurde – und dann von Bismarcks Feldzug gegen die Kirche in den 1870er Jahren, den er selbst als «Kulturkampf» bezeichnete und zu dem die Auflösung und Vertreibung von Ordensgemeinschaften (unter anderem der deutschen Jesuiten) gehörten. Auf der Iberischen Halbinsel bedrohten angeblich die Freimaurer als okkultes Zentrum des säkularen Netzwerks die Kirche, und diese Überzeugung hielt sich bis zum Ende der Franco-Diktatur Mitte der 1970er Jahre.
Auf der anderen Seite dieses epischen Kampfplatzes verfolgten Vertreter des Staates und Liberale ein spezielles reaktionäres Interesse und versuchten, die Rechte auf Gewissens-, Presse- und Meinungsfreiheit sowie die moderne Finanzverwaltung zu blockieren. Nach 1870 sollten die Bildungssysteme zum Schlachtfeld werden. Die bedrängten Katholiken, die mit ihrem Papst als «Gefangenem im Vatikan» litten, nachdem die Italiener Rom als ihre Hauptstadt besetzt hatten, die im gleichen Jahr nach Errichtung der Dritten Republik in Frankreich schmerzlich an den Rand gedrängt wurden, die in Mexiko von der Macht vertrieben und in Deutschland verfolgt waren (bis Bismarck 1878/79 seine Verbündeten wechselte), errichteten Votivkirchen wie die Basilika Sacré-Cœur auf dem Montmartre in Paris, um für die Sünden ihrer gottlosen Gemeinwesen zu büßen. Der säkulare Staat, herausfordernd patriarchal und aggressiv, sollte es mit einer Kirche zu tun bekommen, die wie etwa während des katholischen Revivals in Irland ihr Gemeindeleben zunehmend um das Wirken von Frauen herum neu gestaltete. Dabei ging es nicht nur um Nonnen, sondern um Frauen aus der Mittelschicht, die sich der Wohltätigkeit (wie etwa die Vinzenzgemeinschaft) und guten Werken verschrieben hatten, und gelegentlich auch um heranwachsende Mädchen vom Land, die, möglicherweise bewegt durch das politische Martyrium ihrer Kirche, wie es in den sonntäglichen Predigten beschworen wurde, behaupteten, die Jungfrau Maria sei ihnen erschienen und habe zu ihnen gesprochen – wie in Marpingen im Rheinland, in Lourdes in den französischen Pyrenäen und später im portugiesischen Fatima.[ 73 ]
Doch mochte die gesegnete Muttergottes auch Tausende leidgeprüfter Wallfahrer heilen, die zu diesen heiligen Stätten pilgerten, so konnte sie das Voranschreiten des liberalen Staates und seiner Verwaltungs- und Wirtschaftsreformen nicht wirklich stoppen. Die ihr gewidmeten neuen Kirchen zeugten vom erbarmungslosen Scheitern ihrer Ansprüche innerhalb des Nationalstaats, sie waren wie die kurzen Siege der Stämme am Little Bighorn oder auf den Schlachtfeldern der Zulu auf ihre Weise Monumente für die Niederlage des Widerstands an den frontiers staatlicher Expansion. Protestantisch oder säkular, männlich und militant, rastlos aufs Geschäft bedacht, Eisenbahnen bauend und neue, verbesserte Geschütze, Gewehre und Schiffe kaufend, befand sich der Nationalstaat unaufhaltsam auf dem Vormarsch. Ob seine kommerziellen Energien dafür sorgen würden, dass diese politisch geteilten territorialen Einheiten in Frieden lebten, oder seine militärischen Instinkte in eine katastrophale kriegerische Auseinandersetzung mündeten, musste sich erst noch erweisen. Mit Sicherheit aber gab es genügend Beobachter, die jeweils den einen oder den anderen Ausgang prophezeiten.
Es ist richtig, aber zu einfach, die neuen Loyalitäten, welche die Oberhand behalten sollten, dem Nationalismus zuzuordnen. Der Nationalismus – eine Idee ursprünglich von Eliten auf der Suche nach einem primitiven und vitalen Volk, dem befohlen werden sollte, politische Form anzunehmen, ein
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