Geschichte der Welt 1870-1945: Weltmärkte und Weltkriege (German Edition)
Beginn dieser Phase in den 1890er Jahren wollen wir an dieser Stelle unberücksichtigt lassen und unsere Aufmerksamkeit anderen Ereignissen zuwenden: dem Boxeraufstand in China 1900 und dem Zusammenbruch der Mandschu-Herrschaft 1911, den turbulenten Monaten in Russland 1905 und dann den Regimewechseln 1917, der Konstitutionellen Revolution in Iran 1906–1909, dem Aufstand der Jungtürken 1908 und dem Zerfall des osmanischen Staates zehn Jahre später, schließlich der Abfolge von Rebellionen in Mexiko, die sich über ein Jahrzehnt (1910–1920) erstreckte.
Diese geographisch weit verstreuten Revolutionen hatten jeweils ihre eigenen Ursachen und ihre eigene Geschichte, waren jedoch direkt oder indirekt Produkte sich ausbreitender strategischer Rivalitäten und ausländischer Investoren, die aus lokalen Ressourcen oder Investitionen Profit ziehen wollten und von den Regierungen ihrer Heimatländer wohlwollend begleitet wurden. Abgesehen vom imperialen Russland hatten sich die attackierten Regime offenkundig ausländischer Macht und fremdem Kapital unterworfen. Zweifellos sorgte die Wirtschaftstätigkeit von Ausländern (und damit einhergehend Schulen und Kirchen sowie technisches und finanzielles Know-how) für beträchtliches Wirtschaftswachstum. Das Eisenbahnnetz wuchs um ein Vielfaches; Öl wurde gefördert und neue Banken lenkten Kapital in eine Unmenge von Beteiligungsgesellschaften; Investoren in London, Paris, Berlin, Wien und New York sorgten für lokalen Wohlstand, auch wenn sie selbst beträchtliche Gewinne für ihre Anteilseigner erzielten. Gesellschaftlich nährten sie im Zuge dessen eine Klasse lokaler Mittelsmänner, die sich bereicherten, und riefen auf der Gegenseite Intellektuelle, Journalisten, religiöse Autoritäten und hohe Militärs auf den Plan, die einen Ausverkauf authentischer nationaler oder imperialer Traditionen befürchteten. Somit wuchs rasch ein radikales Ferment heran, das sich in Geheimgesellschaften, aber auch in Kasernen und Klubs organisierte.
Diese Entwicklungen sorgten für die Widersprüche, durch die sich die Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts auszeichneten: Ressentiments und Frust waren in hohem Maße nationalistisch, weil sie auf das Vordringen des globalen und internationalen Kapitals reagierten. Die Revolutionäre forderten eine Modernisierung nach westlichen Prinzipien, bedienten sich jedoch häufig der primitiven Kraft des religiösen Traditionalismus. Zu Aufständen kam es weniger unter benachteiligten Arbeitern und Bauern, sondern bei nativistischen Eliten, die erzürnt waren über militärische Niederlagen und über Autoritäten, die in ihren Augen eine Mitschuld trugen an nationaler Abhängigkeit oder gar Demütigung.[ 143 ] Doch die Eliten, die aufgefordert waren, neue Programme zu organisieren und durchzusetzen – in Mexiko durch umstrittene Wahlen, im Osmanischen Reich durch die zunehmenden Nationalismen auf dem Balkan, in China durch die Demütigungen der Qing –, lösten am Ende massive Aufstände und Bürgerkrieg aus. Mit ihrer nationalistischen Ausrichtung sorgten sie zehn bis zwanzig Jahre lang für regionale Armeen und territoriale Zersplitterung.
Ende des 18. Jahrhunderts hatten Revolutionen als Auseinandersetzungen innerhalb bestimmter Staaten begonnen, die dann ein internationales Eingreifen größerer Mächte auslösten. Diese Konflikte hatten sich in der neuen Sprache der Rechte und Ansprüche artikuliert, wie sie Amerikaner heute aus ihrer Gründungscharta kennen. Am Ende des 19. Jahrhunderts hingegen entstanden die revolutionären Situationen als Reaktion auf vermeintlichen transnationalen Machtmissbrauch, der daraus erwuchs, dass ausländische Regierungen und Investoren im Zusammenspiel mit lokalen Eliten die Arbeitskräfte im Land ausbeuteten und sich an lokalen Ressourcen bereicherten. Diesen transnationalen Ausrichtungen entsprang die Sprache von Imperialismus und Unterentwicklung.
Damit sich jedoch aus einer Situation voller Antagonismen und Feindseligkeiten tatsächlich Aufstände entwickelten, bedurfte es natürlich des Zusammenspiels von Zufall und Persönlichkeit. Insbesondere die politischen Klassen des jeweiligen Landes verloren zusehends die Geduld mit Herrschern und Familien, die schon lange an der Macht waren und die Rufe nach Reformen offenbar nicht hören wollten. Die Zarin in Russland und die Kaiserinwitwe in China schienen die schwachen Männer, die nominell an der Spitze des Landes standen, in ihrem Sinne zu
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