Geschichte des Gens
in deren Laboratorien nicht nur die Struktur der DNA, sondern auch die eines Proteins ermittelt wurde, und beide Ergebnisse passten plötzlich auf wunderbare Weise zusammen. Als Watson und Crick mit der DNA beschäftigt waren, um ihre Struktur zu erkunden, kümmerte sich der Biochemiker Fred Sanger am gleichen Ort um den Aufbau des Insulins, das chemisch betrachtet ein Protein war und physiologisch gesehen als Hormon funktionierte, was heißt, dass es als körpereigene Wirksubstanz durch die Blutbahn zu einem Organ - in dem Fall die Bauchspeicheldrüsetransportiert wird, um hier Signale für weitere biochemische Reaktionen zu geben - in dem Fall für den Stoffwechsel von Zucker. Bevor sich Sanger an die Arbeit machte, waren nicht alle Biochemiker sicher, dass sich hinter der Wirkung, die man mit einem Agens namens »Insulin« verband und messen konnte, ein konkretes Molekül verbarg. Damals zirkulierte in Kreisen der Wissenschaft noch die Vermutung, dass es statt einer makromolekularen Einheit viele kleinere Gebilde gab, die sich je nach zellulärer Umgebung verschieden gruppierten und ihre Aktivität entfalteten. Erst Sanger machte diesem Glauben ein Ende, indem er anfing, die Reihenfolge von Bausteinen (Aminosäuren) im Insulin zu ermitteln. Dafür stand ihm ein Verfahren zur Verfügung, das es erlaubte, eine Kette von Aminosäuren Schritt für Schritt um ein Glied zu verkürzen, das selbst von dem schrumpfenden Protein entfernt und identifiziert wurde. So schlicht sich dieser Vorgang im Prinzip schildern lässt, so verzwickt ist seine praktische Umsetzung, die unter anderem höchste Präzision und perfekte Reinheit voraussetzt. Sanger erwies sich als Meister der Methode und mit ihr konnte er nachweisen, dass die Sequenz des Insulins keine zufällige Erscheinung, sondern eine Messgröße war, die das Hormon charakterisierte und ihm seine besondere Wirkung verlieh. Bald setzte sich der Gedanke allgemein durch, dass Proteine kettenförmig aus Aminosäuren aufgebaut sind.
Abb. 10: Teil des Stoffwechselweges von Phenylalanin und Tyrosin mit möglichen Unterbrechungen
Die entscheidende Qualität von Proteinen wie Hormonen und Enzymen heißt bei den Biochemikern Spezifität, womit ausgedrückt wird, was Enzyme oder Hormone tun, nämlich sehr spezifisch zu wirken, indem sie nur genau eine chemische Reaktion katalysieren oder genau eine physiologische Antwort an genau einer Stelle im Körper auslösen. Sanger konnte mit seiner Analyse des Insulins zum ersten Mal zeigen, wo die Spezifität eines Proteins steckte, nämlich in der Reihenfolge seiner Bausteine. Und nachdem die Doppelhelix als Modell des Gens vorgelegt wurde, brauchte man nur eins und eins zusammenzuzählen, um einem großen Geheimnis der Natur auf die Spur zu kommen.
Die beiden maßgeblichen Moleküle des Lebens - die Erbsubstanz DNA und ihre Produkte, die Proteine - wirkten spezifisch, weil sie völlig gleichartig gebaut waren, nämlich als lineare Ketten von Bausteinen - Nukleotide beziehungsweise Basen bei der DNA und Aminosäuren bei den Proteinen. Wenn ein Gen für ein Protein sorgte, dann hieß das, dass die Zelle einen Weg haben musste, um die Reihenfolge der DNA-Bausteine in die Reihenfolge der Proteinbausteine zu übertragen. Und dafür musste es einen genetischen Code geben, wie zwar schon vermutet worden war, wie man aber jetzt erst konkret zu sehen meinte. Und damit ließ sich unter Zuhilfenahme der damals aufkommenden und erste Erfolge verbuchenden Informationstheorie erneut definieren, was ein Gen ist: Ein Gen enthält die Information für ein Protein, es liefert die Anleitung, nach der in einer Zelle ein Protein angefertigt wird.
Der eben in aller Kürze vollzogene Schritt von der Spezifität zur Information überspringt sehr schnell eine Phase der Molekularbiologie, deren wissenschaftliche Dramatik offenbar nicht unabhängig von dem politischen Hintergrund gesehen werden kann, vor dem sich die Aufdeckung des genetischen Codes in den fünfziger und sechziger Jahren vollzog. Gemeint sind der Kalte Krieg und die Tatsache, dass die finanzielle Förderung der biologischen Wissenschaften in den Jahren nach 1950 vor allem aus dem amerikanischen Verteidigungsministerium kam und hier besonders durch die militärisch kontrollierte Atomenergiekommission vergeben wurde. Für die Wissenschaftshistorikerin Uly Kay kann »der genetische Code als Teil der kulturellen Erfahrung des Kalten Krieges angesehen werden, insofern er ein Leitsymbol
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