Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
solche Zukunft jenseits ihrer Vorstellungskraft. Aber auch in Frankreich waren die Hindernisse auf dem Weg zur liberalen Monarchie ungleich größere, als Constant das in den ersten Jahren nach 1815 erwartet hatte.
Die Liberalen waren die Sprecher einer kleinen einflußreichen Minderheit, die sich durch Besitz und Bildung auszeichnete. Wo es Parlamente gab, die aus einem Zensuswahlrecht hervorgingen, kamen die Wähler der Liberalen ganz überwiegend aus dem Bürgertum und dem Adel. Von den Wählern der Konservativen galt dasselbe. Ein hoher Zensus lag im Interesse beider Richtungen, weil er verhinderte, daß Radikale mit den Stimmen der Unterschicht in die Parlamente einzogen. Die Unterschicht trat spätestens dann in das Bewußtsein der durch das Wahlrecht Privilegierten, wenn sie durch Proteste oder Unruhen auf sich aufmerksam machte. Einige Zeitgenossen bedurften freilich nicht eines solchen Anstoßes, um über die Herausforderung nachzudenken, die der bürgerlichen Gesellschaft durch das industrielle Proletariat erwuchs. Zu ihnen gehörten die Autoren, die man später unter dem Begriff «Frühsozialisten» zusammenfaßte.
Als erster Frühsozialist gilt gemeinhin «Gracchus» Babeuf, der 1797 hingerichtete Führer der «Verschwörung der Gleichen», der die Abschaffung des Privateigentums und eine umfassende Gütergemeinschaft zum Programm erhoben hatte. Vergleichsweise gemäßigt waren demgegenüber die Forderungen von Claude Henri de Rouvroy Comte de Saint-Simon, der, 1760 geboren, im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg an der Seite Lafayettes gekämpft hatte. Nach der Rückkehr der Bourbonen führte er einen publizistischen Feldzug gegen die «unproduktiven» Klassen der Gesellschaft, denen er den Adel, den hohen Klerus, die Richter und Beamten zurechnete. Dieser immer noch herrschenden, parasitären Klasse stellte er die «produktiven» Klassen, nämlich die Gelehrten, Künstler, Bankiers, Kaufleute, Bauern samt der von ihnen beschäftigten Arbeiter gegenüber. Die Lösung der sozialen Frage bestand für Saint-Simon darin, daß die produktiven Klassen die Herrschaft der unproduktiven beseitigten und durch großzügige Vergabe öffentlicher Aufträge für gemeinnützige Zwecke zusätzliche Arbeit schufen. Auf diese Weise sollte der Grund für eine neue, industrielle und wissenschaftliche Gesellschaft gelegt werden, die an die Stelle der alten, feudalen und theologischen Gesellschaft trat.
Kaum weniger utopisch muten die Pläne eines anderen Frühsozialisten an: Charles Fourier, zwölf Jahre jünger als Saint-Simon, wollte die Gesellschaft in «Phalangen» einteilen, von denen jede etwa 1800 Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft und charakterlicher Prägung zusammenfassen sollte. Der gemeinsame Arbeitsvertrag wurde je nach Leistung, Talent und eingebrachtem Kapital verteilt, die Ehe zugunsten der freien Liebe und gemeinsamer Kindererziehung durch die Phalangen abgeschafft, womit Fourier auch die Gleichberechtigung der Frau herzustellen gedachte. Unangenehme Arbeiten waren durch Jugendliche zu verrichten, die in eigenen kleinen Gruppen organisiert wurden. Die neue Gesellschaft sollte der Ausbeutung und Verarmung der Arbeiter durch das industrielle Kapital ein Ende setzen. So «totalitär» sein Entwurf wirkt: Fourier glaubte an die Freiwilligkeit der Phalangen, die von unten wachsen und sich in einer lockeren Föderation, einem neuen Typ von Staat, miteinander verbinden sollten.
Anders als Saint-Simon und Fourier verfügte der 1771 geborene Robert Owen über praktische Erfahrungen mit industrieller Arbeit: Er hatte sich bereits im Alter von 18 Jahren als Spinnmaschinenfabrikant selbständig gemacht. Aus der von ihm geleiteten Fabrik New Lamark machte er ein soziales Musterunternehmen. Er kämpfte für einen gesetzlichen Arbeiterschutz, namentlich für die Beseitigung der Kinderarbeit und eine Beschränkung der Arbeitszeit, hatte damit aber nur sehr begrenzten Erfolg. Im Jahre 1825 unternahm er den Versuch, in der Siedlung New Harmony im amerikanischen Bundesstaat Indiana ein kommunistisches Gemeinwesen aufzubauen, in dem die Produktionsmittel allen gehörten, das Arbeitsentgelt für alle gleich war und Nahrung, Kleidung und Erziehung ebenso gemeinsam waren wie die Lenkung der Siedlung durch eine Vollversammlung der Siedler. Das Experiment scheiterte nach wenigen Jahren, weil sich zu wenige Arbeiter daran beteiligten. Auch mit der Londoner Arbeitsbörse, die den Zwischenhandel und den
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