Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
wurde Kapodistrias von Angehörigen eines verhafteten Rebellenführers ermordet.
Im Jahr darauf wählte die Nationalversammlung nach einer Phase des innergriechischen Bürgerkrieges den noch minderjährigen Prinzen Otto von Wittelsbach, den Sohn König Ludwigs I. von Bayern, zum König von Griechenland. Er stand bis zu seiner Absetzung durch einen Militäraufstand im Jahr 1863 an der Spitze des neuen Staates. In seiner drei Jahrzehnte währenden Regierungszeit erholte sich das Land allmählich von den Verwüstungen des neunjährigen Unabhängigkeitskrieges; die völlig zerstörte Hauptstadt Athen wurde wiederaufgebaut. 1843 gaben sich die Griechen auf Grund einer Volksabstimmung eine neue Verfassung, die die volle Verantwortlichkeit der Minister einführte. Griechenland war damit das erste orthodoxe Land, das eine «westliche» Regierungsform, die der konstitutionellen Monarchie, übernahm. Es war nun, was die Verfassung anging, sogar westlicher als die Länder des westlichen Mittelmeerraumes. Die Gesellschaft freilich war nicht so schnell zu ändern wie das Grundgesetz des Staates. Wie weit sie sich die politischen Ideen des Westens aneignen würde, war auch Mitte des 19. Jahrhunderts noch eine offene Frage.[ 64 ]
Die Befreiung Lateinamerikas
Zwei europäische Revolutionen der frühen 1820er Jahre standen in engem Zusammenhang mit revolutionären Bewegungen auf der anderen Seite des Atlantiks: die spanische und die portugiesische. In den iberischen Kolonien Lateinamerikas gab es, anders als im überwiegend britisch besiedelten Nordamerika, keine aus dem Mutterland stammenden Freiheitstraditionen, die es notfalls auch gegen die Kolonialmächte zu verteidigen galt. Die beiden wichtigsten Ursachen der verbreiteten Unzufriedenheit mit dem Mutterland waren die Korruption bei den kolonialen Beamten und die Diskriminierung der kreolischen, seit der Zeit der Konquistadoren im Lande ansässigen Eliten überwiegend weißer, zu einem kleineren Teil aber auch indianischer oder (in Brasilien) schwarzer Herkunft, gegenüber den (rein) spanischen beziehungsweise portugiesischen Kolonialeliten. Eine breite Unabhängigkeitsbewegung hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika noch nicht herausgebildet. Den Anstoß hierzu gaben erst die Umwälzungen in Spanien und Portugal seit der napoleonischen Epoche.
Die Kolonialherrschaft Spaniens in Lateinamerika verfiel im Gefolge der fortschreitenden französischen Besetzung des Mutterlandes im Jahre 1808 und verstärkt nach der Auflösung der royalistischen Junta General von Sevilla Anfang 1810. Die antinapoleonischen Kräfte in Cádiz waren in der Folgezeit so stark auf englische Hilfe angewiesen, daß sich das spanische Monopol im Handel mit den eigenen Kolonien nicht länger verteidigen ließ. Der erzwungene Übergang zum Freihandel legte den Grund für eine neue Abhängigkeit Lateinamerikas: die wirtschaftliche Abhängigkeit von Großbritannien und bald auch von den Vereinigten Staaten von Amerika.
Auch bei der Loslösung Brasiliens vom Mutterland spielte der Faktor England eine wichtige Rolle: Portugal war nach dem Ende der napoleonischen Kriege mehr denn je eine britische Halbkolonie. Eine gewaltsame Niederwerfung der brasilianischen Unabhängigkeitsbewegung gegen den Willen Londons war schlechthin undenkbar. Umgekehrt wirkten die Ereignisse in Lateinamerika auf die innere Entwicklung in Spanien und Portugal zurück: Bei der Behandlung der beiden iberischen Revolutionen war davon bereits die Rede.
In der ersten Phase des Unabhängigkeitskampfes der spanischen Kolonien traten zunächst nur Teile der kreolischen Oberschicht den spanischen Beamten und Offizieren sowie einer royalistisch gebliebenen Minderheit der Kreolen gegenüber. Um zu obsiegen, mußten beide Seiten sich um Verbündete bemühen. Bei der weißen Unterschicht und den Mestizen konnten die einen wie die anderen gewisse Erfolge verbuchen, bei den Indios nur die Vorkämpfer der Unabhängigkeit. Das letztere traf auch für die schwarzen Sklaven und Mulatten zu. Sklaven afrikanischen Ursprungs bildeten aber in Hispanoamerika, sieht man von der Zuckerrohrinsel Kuba ab, die bis 1898 eine spanische Kolonie blieb, nur eine kleine Minderheit. Nach den fundierten Schätzungen Alexander von Humboldts belief sich die Gesamtbevölkerung des spanischsprachigen Amerika um 1800 auf 16,9 Millionen Menschen. Davon waren 7,5 Millionen (45 Prozent) Indianer, 5,3 Millionen (32 Prozent) Mestizen, 3,3 Millionen (19 Prozent)
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