Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Pillersdorf stand der von den Radikalen beherrschte Sicherheitsausschuß gegenüber. Eine gewisse Entspannung bewirkte Mitte Juni Erzherzog Johann, der auf Ausgleich bedachte, für die Dauer der Abwesenheit des Kaisers mit unbeschränkten Vollmachten ausgestattete Bruder Ferdinands. Er bildete die Regierung entsprechend den Forderungen des Sicherheitsausschusses um. Am 22. Juli konstituierte sich der kurz zuvor gewählte Reichstag, in dem alle Teile der Habsburgermonarchie außer Ungarn und Lombardo-Venetien vertreten waren. Die Deutschen waren gegenüber den fast durchweg gouvernemental gesinnten Abgeordneten der slawischen Nationen in der Minderheit, und selbst in Wien, ihrer einzigen wirklichen Hochburg, hatten sich die Radikalen gegenüber den gemäßigten Kräften nicht durchsetzen können. Die Mehrheitsverhältnisse gestatteten es der Regierung, die politische Kernfrage zugunsten der Exekutive zu entscheiden: Der Reichstag stimmte einem absoluten Veto des Kaisers gegen Beschlüsse der Legislative zu.
Was im März 1848 in Österreich geschah, hatte unmittelbare Auswirkungen auf Preußen. Die ersten Unruhen in Berlin hatte es am 14. März gegeben. Als tags darauf die Nachricht vom Sturz Metternichs die preußische Hauptstadt erreichte, steigerte sich die allgemeine Erregung gewaltig. König Friedrich Wilhelm IV. versuchte, durch zwei Patente vom 18. März die Unruhe einzudämmen: Das eine hob die Zensur auf, das andere versprach einen Vorstoß zur Reorganisation der Bundesverfassung samt der Schaffung einer Nationalpräsentation und kündigte im Zusammenhang damit die Umwandlung Preußens in einen Verfassungsstaat an.
Als die Berliner am Nachmittag des 18. März zu Tausenden zum Stadtschloß strömten, taten es nicht alle, aber doch die meisten in der Absicht, dem König zu huldigen und ihm für die Ankündigung überfälliger Reformen zu danken. Doch der Anblick des Militärs, das in großer Zahl auf dem Platz vor dem Schloß postiert worden war, ließ die Stimmung rasch umschlagen. Rufe nach dem Rückzug der Truppen wurden laut; die Soldaten erhielten den Befehl, den Platz zu räumen, wobei zwei Schüsse fielen. Die Menge wähnte sich vom König verraten und antwortete mit dem Bau von Barrikaden.
Die Kämpfe zwischen den Aufständischen und dem Militär dauerten bis zum Morgen des 19. März. Der König, eine ganz und gar unsoldatische Erscheinung, zeigte sich erschüttert und versprach in einem Aufruf an seine «lieben Berliner», die Truppen von fast allen Straßen und Plätzen abzuziehen, sobald die Barrikaden abgerissen seien. Tatsächlich ging der Abzug des Militärs noch weiter als von Friedrich Wilhelm angekündigt. Die Aufständischen konnten sich um so mehr als Sieger fühlen, als der König sich am Nachmittag des 19. März mit entblößtem Haupt vor den über 200 Toten verneigte, die die Barrikadenkämpfer in den Schloßhof gebracht hatten. Am 20. März wurde eine neue, wenn auch nur kurzlebige Regierung berufen; am Tag darauf unternahm der König, umgeben von den Prinzen des königlichen Hauses, den Ministern und einigen Generälen einen Umritt durch Berlin. Dabei trugen er und seine Begleiter Armbinden in den schwarz-rot-goldenen Farben der deutschen Einheitsbewegung. Vor Studenten der Berliner Universität verkündete Friedrich Wilhelm IV. seine Absicht, an der Spitze der deutschen Fürsten und des ganzen Volkes die Einheit Deutschlands herbeizuführen. Am Abend erging der «Aufruf an mein Volk und an die deutsche Nation». Der Schlüsselsatz lautete: «Preußen geht fortan in Deutschland auf.»
Für konservative Offiziere und Rittergutsbesitzer wie den jungen Otto von Bismarck aus Schönhausen in der Altmark war alles, was der König zwischen dem 19. und 21. März sagte und tat, eine widerwärtige Anbiederung an die Revolution und damit geistiger Verrat am Preußentum. Die gemäßigten Liberalen brachten den Äußerungen Friedrich Wilhelms IV. eine gewisse Sympathie entgegen, hielten aber die Ankündigung, daß Preußen in Deutschland aufgehen werde, für überflüssig, ja gefährlich. Die entschiedene Linke, uneins in der Frage, was in einem vereinten Deutschland aus Preußen werden sollte, glaubte nicht an einen wirklichen Gesinnungswandel des Monarchen. Außerhalb Preußens war das Echo auf das Einheitsversprechen einhellig negativ. Die Vorgänge des 18. März hatten dem Ansehen Friedrich Wilhelms schwer geschadet; sie trugen mit dazu bei, daß weder die neuen Märzregierungen noch die sie
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