Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Folgezeit ein Verfassungsstaat. Zwischen den süd- und mitteldeutschen Staaten auf der einen und Preußen auf der anderen Seite gab es mithin seit 1848 eine Gemeinsamkeit, die es in der Restaurationszeit und im Vormärz nicht gegeben hatte: ein Ergebnis der Revolution, dessen Wirkungen sich erst später zeigen sollten, als sich nach den Kriegen von 1866 und 1870/71 aus der älteren, Österreich mit einschließenden Kulturnation die jüngere, von Preußen geführte kleindeutsche Staatsnation herauszubilden begann.
Die Revolution hatte die Probleme, die ihr zugrunde lagen, nicht gelöst, aber sie wirkte klärend und sie hatte weitreichende Folgen. Erst die Erfahrungen von 1848/49 verhalfen dem Liberalismus zu der Erkenntnis, daß die deutsche Frage vor allem eine Machtfrage war, die eng mit dem historischen Dualismus zwischen Österreich und Preußen verknüpft war. Im Jahr 1853 erschien in Stuttgart (zunächst anonym) eine Schrift unter dem Titel «Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands». Verfasser war der liberale Publizist August Ludwig von Rochau, ein aus Wolfenbüttel stammender Jurist und ehemaliger Burschenschaftler, der 1833 am Sturm auf die Frankfurter Hauptwache teilgenommen hatte, nach seiner Verurteilung zu lebenslänglichem Zuchthaus nach Frankreich geflohen und 1848 nach Deutschland zurückgekehrt war. Ob Rochau den Begriff «Realpolitik», der nur im Titel, aber nicht im Text seiner Schrift auftaucht, geprägt oder nur aufgegriffen hat, ist unklar. Durch sein knappes Buch wurde «Realpolitik» zum politischen Schlagwort, und das nicht nur in Deutschland, sondern international.
«Herrschen heißt Macht üben, und Macht üben kann nur der, welcher Herrschaft besitzt. Dieser unmittelbare Zusammenhang von Macht und Herrschaft bildet die Grundwahrheit aller Politik und den Schlüssel der ganzen Geschichte»: In diesen beiden Sätzen faßte Rochau seine Selbstkritik des deutschen Liberalismus zusammen. Aus dem Scheitern der Revolution ergab sich die Pflicht, die Unklarheit zu überwinden, die den revolutionären Hauptzweck der Bewegung, die Einigung Deutschlands, vereitelt hatte. Die Liberalen hatten sich laut Rochau Illusionen hingegeben über den Gegensatz zwischen dem Staatsinteresse Österreichs und dem Nationalinteresse Deutschlands; sie hatten die innere Notwendigkeit des Gegensatzes zwischen der österreichischen und der preußischen Politik verkannt: «Preußen muß wachsen, um zu bestehen, und Österreich darf Preußen nicht wachsen lassen, um nicht unterzugehen – das ist die Sachlage, welche dem Wechselverhältnis zwischen beiden Staaten seinen eigentlichen Charakter gibt.»
Rochau war nicht gewillt, das Streben nach einem «Großdeutschland» aufzugeben. Aber «Kleindeutschland» war für den liberalen Realpolitiker eine notwendige Durchgangsstation auf dem Weg zu diesem Ziel. Preußens Interessen waren mit dem der deutschen Nation vereinbar, die Interessen Österreichs nicht. Außerdem war der Staat der Hohenzollern ein Verfassungsstaat, und bei allen Schwächen des deutschen Konstitutionalismus war dieser doch immer noch eine «politische Schule für Deutschland». Am Konstitutionalismus festzuhalten und ihn weiterzuentwickeln war allemal besser als radikalen Parolen der Demokraten oder gar der Sozialisten zu folgen, die am Ende nur wider Willen der Reaktion zuarbeiteten. Von den Idealen des älteren, vormärzlichen Liberalismus wollte Rochau mit alledem sich nicht verabschieden. Aber mit idealistischen Mitteln waren Ideale nicht zu verwirklichen, sondern nur mit den Mitteln der Macht: Das war die Botschaft, von der der Autor der «Grundsätze der Realpolitik» die deutschen Liberalen zu überzeugen versuchte. Er tat freilich nur wenig, um sie und andere Leser von der Folgerung abzuhalten, daß Realpolitik sich auch ohne ideale Ziele betreiben ließ und dann von bloßer Machtpolitik nicht mehr zu unterscheiden war.
Für die deutsche Geschichte bedeutete 1848/49 einen tiefen Einschnitt. Daß die Liberalen und Demokraten Einheit und Freiheit nicht aus eigener Kraft hatten verwirklichen können, prägte das politische Bewußtsein der Deutschen: Es blieb obrigkeitlich verformt. Doch es war nicht nur ein Unglück, daß das ehrgeizige Doppelziel damals nicht erreicht wurde. Denn wenn die entschiedenen Revolutionäre mit der Verwirklichung ihres Programms begonnen und den großen Krieg zur Befreiung Europas ausgelöst hätten, wäre das Ergebnis
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