Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
vermutlich eine Katastrophe für den alten Kontinent gewesen.[ 97 ]
Rückblick auf die Revolution (II): Europa
Was für die deutsche Revolution gilt, trifft auch auf die europäische Revolution von 1848 als Ganzes zu: Ihr Scheitern wirkte klärend und war folgenreich. Mit einer gewissen Zuspitzung könnte man sogar behaupten, Erfolg habe diese Revolution nur dort gehabt, wo sie nicht stattfand. Die Niederlande erhielten im Herbst 1848 eine faktisch neue Verfassung, ohne daß es zuvor zu gewaltsamen Erschütterungen gekommen wäre. In Dänemark, dessen erste Verfassung vom Juni 1849 datiert, hatte sich der König im März 1848 so rasch an die Spitze der nationalliberalen Bewegung gestellt, daß die ansonsten zu erwartende revolutionäre Entladung des Volkszorns ausblieb. Gewalt wurde in dem südlichsten der skandinavischen Königreiche in der Folgezeit freilich durchaus angewandt: in dem Krieg um Schleswig, der die Nation einte, in dem betroffenen Gebiet aber auch viele Züge eines Bürgerkrieges trug.
Was wir als Hauptgrund für das Scheitern der deutschen Revolution festgehalten haben, die Überforderung der Liberalen und Demokraten durch die selbstgestellte Doppelaufgabe, aus Deutschland gleichzeitig einen National- und einen Verfassungsstaat zu machen, findet seine Entsprechung in Italien. Zwischen den beiden Revolutionen gibt es aber auch markante Unterschiede: Deutschland mußte, anders als Italien, keinen Krieg mit dem Ziel führen, eine Fremdherrschaft zu überwinden. Die Niederlage Sardinien-Piemonts im Kampf gegen Österreich im Sommer 1848 und die Fortdauer der habsburgischen Herrschaft in Oberitalien trugen entscheidend dazu bei, daß keiner der Pläne eines gesamtitalienischen Parlaments verwirklicht wurde. Deswegen konnte Italien 1848/49 keine Erfahrungen mit parlamentarischer Willensbildung auf nationaler Ebene sammeln. Deutschland hatte diese Möglichkeit seit der Wahl der Frankfurter Nationalversammlung, und nichts war für die Herausbildung einer nationalen Öffentlichkeit so wichtig wie die Debatten der Paulskirche, von denen dank eines blühenden Zeitungswesens eine breite Leserschaft in allen Teilen des Landes Kenntnis nahm. Auf dem Weg zur Entstehung einer modernen Staatsnation war 1848/49 für Deutschland darum eine tiefere Zäsur als für Italien.
Während Deutschland und Italien einen souveränen Nationalstaat anstrebten, ging es den meisten slawischen Völkern der Habsburgermonarchie um einen angemessenen Platz innerhalb dieses Vielvölkerreiches. Sie wurden damit zu Gegnern der Kräfte, die mit ihren politischen Vorhaben den Zusammenhalt dieses Gebildes zu sprengen drohten: der österreichischen Deutschen, soweit sie sich an der Gründung eines deutschen Nationalstaates beteiligten, der Polen, die auf einen eigenen, ungeteilten und unabhängigen Staat hinarbeiteten, der Ungarn, die nicht länger bereit waren, sich der Oberhoheit des Kaisers in Wien zu beugen.
Nirgendwo in Ostmitteleuropa traten 1848 die Schwierigkeiten einer Nationalstaatsgründung so deutlich zutage wie in der ungarischen Hälfte des Habsburgerreiches. Für den Nationalstaat westlichen Typs, wie ihn Frankreich verkörperte, war die Idee der «nation une et indivisible» grundlegend, die ihren Willen durch Mehrheitsentscheidung artikulierte. In Ostmittel- und Südosteuropa waren nationale Gemengelagen nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Setzte sich hier die stärkste Nationalität durch Anwendung des Mehrheitsprinzips durch, kam das einer politischen Vergewaltigung der anderen Nationalitäten gleich.
Die Magyaren machten kaum die Hälfte der Bewohner des «transleithanischen» Teiles des Habsburgerreiches aus. Mit der Proklamation eines unabhängigen Ungarn forderte die Titularnation den geballten Widerstand aller Nationalitäten heraus, die ihre Interessen im Vielvölkerstaat der Habsburgerkaiser besser aufgehoben glaubten als in einem von den Magyaren beherrschten Staat. Mit dem westlichen Verständnis von Nation berührte sich das ungarische insofern, als es sich nicht auf eine gewachsene kulturelle, sprachliche und ethnische, sondern auf eine politische und staatsrechtliche Gemeinsamkeit berief: die historische Zusammengehörigkeit der Länder der Stephanskrone. Mit dem westlichen Prinzip der bewußten subjektiven Entscheidung für die Nation aber war der ungarische Staatsnationalismus nicht vereinbar: Kroaten, Slowenen, Slowaken, Serben, Deutsche und Rumänen wurden nicht gefragt, ob sie Ungarn sein wollten.
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