Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
ändern, fand zwar die Zustimmung des Zarenreiches. Die Pforte aber wies angesichts der Proteste der islamischen Führer und der immer lauter werdenden Rufe nach einem Heiligen Krieg, dem Dschihad, die Note zurück. Am 4. Oktober 1853 folgte die türkische Kriegserklärung an Rußland.
Damit rückte die «orientalische Frage» erneut, wie zuletzt 1840, ins Zentrum der europäischen Politik. Am Zarenhof war man davon überzeugt, daß der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und seine Aufteilung durch die großen europäischen Mächte in greifbare Nähe gerückt waren. In Großbritannien waren die Meinungen geteilt. Der konservative Premierminister Lord Aberdeen, der an der Spitze eines Koalitionskabinetts stand, war vor allem an einem guten Einvernehmen mit dem Zarenreich interessiert und daher nicht bereit, Rußland in den Arm zu fallen. Der liberale Lord Palmerston hingegen, damals Innenminister, sah die britische Position im östlichen Mittelmeerraum, längerfristig auch den Besitz Indiens und damit das Empire und die Weltstellung Großbritanniens in Gefahr, wenn die Türkei auf Kleinasien schrumpfen und Rußland das Schwarze Meer, das Marmarameer und die Meerengen voll unter seine Kontrolle bringen sollte. Hinzu kam die Bedeutung des Osmanischen Reiches als Absatzmarkt britischer Industrieerzeugnisse. Deshalb tat der langjährige Chef des Foreign Office alles, um die öffentliche Meinung seines Landes auf die Unvermeidbarkeit eines Krieges mit Rußland einzustimmen und für sein wichtigstes Kriegsziel zu gewinnen: die Erhaltung und Lebensfähigkeit des Osmanischen Reiches.
Von anderen Motiven ließ sich Napoleon III. leiten, als er seit dem Oktober 1853 sein Land auf einen Krieg mit Rußland vorzubereiten begann und damit Abschied nahm von jenem pathetischen Friedensversprechen, das er am 9. Oktober 1852, noch als «Prince-Président», in einer Rede in Bordeaux in die vielzitierten Worte gekleidet hatte: «L’Empire, c’est la paix.» Dem Kaiser ging es vor allem darum, durch ein Zusammengehen mit England Frankreich aus der außenpolitischen Isolierung herauszuführen, in die es unter seiner Herrschaft geraten war, und Rußland womöglich die Wiederherstellung eines selbständigen Polen abzutrotzen, in jedem Fall aber die Ordnung des Wiener Kongresses von 1815 endgültig zu überwinden. Außerdem wollte er die katholische Kirche enger an sich binden, indem er dem Zaren den Anspruch streitig machte, Schutzherr der Heiligen Stätten in Palästina zu sein.
Einen wichtigen Anstoß, auf Krieg statt auf friedlichen Ausgleich zu setzen, gab den beiden Westmächten die Vernichtung der türkischen Flotte bei Sinope am 30. November 1853. Am 12. März 1854 schlossen Großbritannien und Frankreich einen Bündnisvertrag mit dem Sultan; einem Ultimatum an Rußland folgte am 26. März die Kriegserklärung der Westmächte. Damit begann der Krimkrieg, der seinen Namen der Tatsache verdankt, daß diese Halbinsel der Hauptschauplatz der Kämpfe war. Das entscheidende militärische Ereignis war die fast ein Jahr dauernde Belagerung der befestigten Hafenstadt Sewastopol, die im September 1855 von den verbündeten Truppen, darunter seit Januar 1855 auch solchen aus dem Königreich Sardinien-Piemont, erobert wurde.
Zeitweilig hatte es so ausgesehen, als werde Österreich, um seine Interessen auf dem Balkan zu wahren, an der Seite der Westmächte in den Krieg eintreten. Ein Bündnisvertrag mit England und Frankreich vom 2. Dezember 1854, auf den Graf Buol, der Nachfolger des im April 1852 verstorbenen Schwarzenberg, hingearbeitet hatte, schien die Weichen in dieser Richtung zu stellen. Doch den entscheidenden Schritt wollte Wien nicht ohne Preußen tun, mit dem es im April 1854 ein Schutz- und Trutzbündnis abgeschlossen hatte. Eine Beteiligung Preußens an einem Krieg gegen Rußland befürwortete in Berlin eine gemäßigt konservative Gruppierung, die liberalkonservative «Wochenblattpartei», die die Unterstützung des Thronfolgers, Prinz Wilhelm, genoß, während die hochkonservative Kamarilla ein Zusammengehen mit Rußland wünschte und eine dritte Richtung, zu der Ministerpräsident von Manteuffel und Otto von Bismarck, seit dem Juli 1851 der Vertreter Preußens beim Deutschen Bund in Frankfurt, gehörten, für strikte Neutralität eintrat.
Nachdem Rußland die Forderung Österreichs und Preußens nach der Räumung der Donaufürstentümer im August 1854 erfüllt hatte (woraufhin diese entsprechend einem Vertrag mit der
Weitere Kostenlose Bücher