Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
bei; ein Jahr später tat Japan denselben Schritt. Seit dem Krieg mit China von 1894/95 galt Japan als gleichberechtigtes Mitglied der Völkerrechtsgemeinschaft. Die Haager Konferenzen von 1899 und 1907 beschleunigten die Herausbildung einer weltweiten Völkerrechtsgemeinschaft, aber sie standen nicht an ihrem Anfang.
Anfechtbar ist auch das harsche Verdikt Schmitts, die Zweite Haager Konferenz habe durch zahlreiche Vorbehalte die schönsten Versprechungen in eine bloße Fassade verwandelt. «Der Satz ‹pacta sunt servanda› (Verträge sind einzuhalten, H.A.W.) wehte als juristische Flagge über einer völlig nihilistischen Inflation zahlloser, sich widersprechender und durch offizielle oder stille Vorbehalte gänzlich entleerter Pakte.» Die Haager Konferenzen waren bei aller Unvollkommenheit ihrer Ergebnisse ein Versuch, in der Tradition von Hugo Grotius den Krieg einzuhegen und außereuropäische Staaten, die nicht in dieser Tradition standen, auf ebendieses Ziel festzulegen.
Keinen Einfluß hatte die Haager Landkriegsordnung auf Bürgerkriege oder bürgerkriegsähnliche Ausschreitungen innerhalb eines Staates. In letztere Kategorie fielen die Pogrome gegen die christlichen Armenier im Osmanischen Reich und gegen die Juden des Zarenreiches. Auf dem Berliner Kongreß hatte sich die Türkei 1878 zu Reformen in den armenischen Provinzen verpflichten müssen, diesem Versprechen aber keine Taten folgen lassen. Das gewollte Versäumnis bewirkte eine Radikalisierung von Teilen der armenischen Bevölkerung. Seit den späten achtziger Jahren entstanden Befreiungsorganisationen, die teils mehr Rechte für die Armenier, teils ihre nationale Selbstbestimmung bis hin zur Loslösung vom russischen wie vom Osmanischen Reich forderten. Unter Sultan Abdulhamid II. kam es zwischen 1894 und 1896 immer wieder zu Pogromen gegen die Armenier; etwa 200.000 Menschen fielen den Ausschreitungen zum Opfer. England und Frankreich protestierten in Noten an die Hohe Pforte, erzielten damit aber keine Wirkung; Rußlands Unterstützung der Armenier hielt sich auf Grund von Rivalitäten zwischen der orthodoxen und den armenischen Kirchen in engen Grenzen.
Die Verfolgung der Juden in Rußland trat 1892/93 mit der Ausweisung von Tausenden von Juden, vor allem Handwerkern, aus dem Innern Rußlands, einschließlich Moskaus, in die Ansiedlungsrayons im Westen und in Polen in ein neues Stadium. Es folgten kleinliche Schikanen wie die Beschränkung von Geschäfts- und Erholungsreisen von Juden und ihr faktischer Ausschluß vom Beruf des Rechtsanwalts. Die Judenfeindschaft im Zarenreich war nach dem Urteil des Historikers Heinz-Dietrich Löwe Ausdruck einer rückwärtsgewandten sozialen Bewegung: «Der russische Antisemitismus, der sich zur Waffe des Antikapitalismus reaktionär agrarischer Interessen entwickelte, richtete sich immer stärker gegen die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden, die man als Speerspitze des Kapitalismus, als Prototypen einer freigesetzten Wirtschafts- und Konkurrenzgesellschaft sah, in der der adlige Gutsbesitz keine Chance mehr haben würde.» Nach dem besonders blutigen Massenpogrom von Kischinew im Jahre 1903 scheute Innenminister Plehwe nicht vor der Behauptung zurück, die Aktionen seien ein Protest des zarentreuen Volkes gegen den hohen Anteil der Juden an der revolutionären Bewegung: eine Rechtfertigung des Geschehens, die, ebenso wie das Massaker selbst, den Strom der jüdischen Auswanderer nach Übersee, vor allem in die Vereinigten Staaten von Amerika, weiter anschwellen ließ.
Antijüdische Ausschreitungen gab es im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht nur im Zarenreich, sondern gelegentlich auch in Ländern des Okzidents. Sehr viel weiter verbreitet aber war hier ein Antisemitismus der verbalen Hetze, des kulturellen Boykotts und der gesellschaftlichen Ausgrenzung, der in den Juden vorzugsweise Agenten und Nutznießer einer als gefährlich bewerteten Moderne sah. In Deutschland, im Habsburgerreich und in Frankreich wurde diese Spielart von Antisemitismus seit den 1870er Jahren zunehmend «salonfähig». Sie rief aber auch liberale wie jüdische Gegenbestrebungen auf den Plan – in Deutschland etwa in Gestalt des 1890 gegründeten Vereins zur Abwehr des Antisemitismus und des drei Jahre später entstandenen Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens.
In der sozialistischen Arbeiterbewegung waren viele Juden aktiv, aber als politische Gefahr wurde der Antisemitismus von den
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