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Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)

Titel: Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Marxisten im allgemeinen unterschätzt. In den Reihen der deutschen Sozialdemokraten etwa grassierte das (zu Unrecht oft Bebel zugeschriebene) Schlagwort vom Antisemitismus als dem «Sozialismus der dummen Kerls». Darin drückte sich eine geradezu aberwitzige Hoffnung aus, die eine Parteibroschüre aus den frühen neunziger Jahren in folgende Worte faßte: «Und die Antisemiten? … Sie bilden die Vorhut der Sozialdemokratie, indem sie in Kreise eindringen, die der letzteren noch nicht zugänglich sind. Durch die Behauptung, die Juden seien die Ursache allen sozialen Elends, veranlassen sie ihre Anhänger, über diese Ursachen nachzudenken, und bewirken dadurch die Entstehung von Klassenbewußtsein in rückständigen Volksschichten.»
    Viele Juden nahmen den Antisemitismus sehr viel ernster. Einer von ihnen war Theodor Herzl aus Budapest, der 1878, im Alter von 18 Jahren, mit seiner Familie nach Wien umgezogen war. Dort trat er als Student der Rechtswissenschaft der deutschnationalen, das heißt großdeutsch gesinnten Burschenschaft «Albia» bei, die er 1883 wieder verließ, nachdem diese zwei Jahre zuvor beschlossen hatte, keine Juden mehr aufzunehmen. In der Hauptstadt des Habsburgerreiches erlebte der völlig assimilierte Herzl den Antisemitismus in zwei Varianten: einmal als politisches Credo von Akademikern und Studenten, wie es seit 1885 Georg Ritter von Schönerer, der Führer der großdeutschen Bewegung, vertrat, zum anderen als Ressentiment des Kleinbürgertums, wirkungsvoll artikuliert durch einen ehemaligen Anhänger Schönerers, Dr. Karl Lueger, den Führer der 1891 gegründeten Christlichsozialen Partei und seit 1897 Bürgermeister von Wien.
    Nach den ersten Wahlerfolgen Luegers schrieb Herzl ein Theaterstück, «Das Neue Ghetto», die «Kritik eines assimilierten Juden an der Assimilation», wie Michael Brenner in seiner «Geschichte des Zionismus» schreibt. Seit 1891 arbeitete Herzl als Korrespondent der Wiener «Neuen Freien Presse» in Paris. Er erlebte dort das gewaltige Echo eines antisemitischen «Bestsellers», des erstmals 1886 aufgelegten Buches «La France juive» (Das jüdische Frankreich) von Edouard Drumont, dann, im Dezember 1894, die Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus zum Hochverrat und die anschließenden Straßenkrawalle. Im Juli 1895 kehrte Herzl nach Wien zurück – entschlossen, dem Antisemitismus eine wirksame Antwort zu erteilen.
    Die Antwort war das Anfang 1894 erschienene Buch «Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage». Es begann mit einer scharfen Analyse des Antisemitismus. «Die Judenfrage besteht. Es wäre töricht, sie zu leugnen. Sie ist ein verschlepptes Stück Mittelalter, mit dem die Kulturvölker auch beim besten Willen noch nicht fertig werden konnten … In den Bevölkerungen wächst der Antisemitismus täglich, stündlich und muß weiter wachsen, weil die Ursachen fortbestehen und nicht behoben werden können. Die causa remota (entfernte Ursache, H.A.W.) ist der im Mittelalter eingetretene Verlust unserer Assimilierbarkeit, die causa proxima (nächstliegende Ursache, H.A.W.) unsere Überproduktion an mittleren Intelligenzen, die keinen Abfluß nach unten haben und keinen Aufstieg nach oben – nämlich keinen gesunden Abfluß und keinen gesunden Aufstieg. Wir werden nach unten hin zu Umstürzlern proletarisiert, bilden die Unteroffiziere aller revolutionären Parteien, und gleichzeitig wächst nach oben unsere furchtbare Geldmacht.»
    Die Assimilation der Juden war also Herzl zufolge gescheitert und die Judenfeindschaft unaufhebbar. Die Juden mußten daraus die Konsequenz ziehen, Europa verlassen und ihren eigenen Staat gründen – ob in Palästina oder in Argentinien, durch Vertrag mit dem Sultan oder mit der Regierung in Buenos Aires, ließ der Autor zu diesem Zeitpunkt noch offen. Von einem Judenstaat in Palästina, und nur dort, ging Herzl erst in dem 1902 veröffentlichten utopischen Raum «Altneuland» aus. Die Tatsache, daß in Palästina Araber lebten, empfand der Autor nicht als Einwand gegen sein Projekt; er versprach ihnen die vollen bürgerlichen Freiheiten und die Toleranz, die die Juden in Europa gelernt hätten. Als Sprache des Judenstaates kam aus praktischen Gründen das Hebräische, das seit Jahrhunderten nur noch als Gebetssprache diente, nach Herzls Meinung nicht in Frage; vielmehr wollte er im Judenstaat alle westlichen Sprachen zulassen und dem Deutschen, das auch zur Sprache der zionistischen

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