Geschichte des Westens
Reichspräsident bei einer erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Ordnung Maßnahmen erlassen konnte, denen der Reichstag nicht zustimmen mußte, die er aber außer Kraft setzen konnte. Der Reichspräsident konnte ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz zum Gegenstand eines Volksentscheids machen. Ein Volksentscheid war auch anzuordnen, wenn ein Zehntel der Bevölkerung dies in einem Volksbegehren forderte. Das Prinzip der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie wurde also nicht nur durch den Reichspräsidenten als Ersatzgesetzgeber, sondern auch durch die Möglichkeit der Volksgesetzgebung eingeschränkt.
Der Reichskanzler wurde nicht vom Reichstag gewählt, er bedurfte aber, wenn er vom Reichspräsidenten ernannt war, des Vertrauens des Reichstags und mußte zurücktreten, wenn der Reichstag ihm das Mißtrauen aussprach. Der Reichspräsident hatte damit einen großen Spielraum bei der Auswahl des Regierungschefs. Nimmt man hinzu, daß der Reichspräsident auch den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht hatte und über das Recht verfügte, den Reichstag aufzulösen, so wurde verständlich, warum schon Zeitgenossen von einem «Ersatzkaiser» oder «Kaiserersatz» sprachen. Der Reichstag konnte davon ausgehen, daß das Staatsoberhaupt in die Bresche springen würde, wenn sich die gerade regierenden Parteien nicht auf Kompromisse verständigen konnten oder wollten. Parlamentarischer Opportunismus und präsidialer «Bonapartismus» konnten infolgedessen leicht zu einem stillenVerfassungswandel führen: einer Machtverlagerung von der repräsentativen Volksvertretung hin zum plebiszitär legitimierten Staatsoberhaupt, ja zu einer kommissarischen Diktatur des Reichspräsidenten, die den Befürwortern dieser Konstruktion als Unterpfand von Stabilität im Krisenfall erschien.
Leidenschaftlichen Streit gab es um die Reichsfarben: Die Rechte wollte es, unterstützt von der Mehrheit der Deutschen Demokratischen Partei und einer Minderheit der katholischen Zentrumspartei, bei Schwarz-Weiß-Rot, der Flagge des Bismarckreiches, belassen, die Sozialdemokraten und Teile der bürgerlichen Mitte hingegen zu den Farben der Revolution von 1848/49, Schwarz-Rot-Gold, zurückkehren. Am Ende stand ein konfliktträchtiger Kompromiß: Die Reichsfarben waren Schwarz-Rot-Gold; angeblich der besseren Sichtbarkeit zur See wegen wurde aber daneben eine besondere Handelsflagge eingeführt, die die Farben Schwarz-Weiß-Rot «mit einer Gösch in schwarz-rot-gold in der oberen inneren Ecke» zeigte. Nicht minder kontrovers war die Neuordnung des Schulwesens: Die Sozialdemokraten setzten als Regelschule die für alle gemeinsame «Simultanschule» durch; an ihre Stelle konnte aber auf Antrag der Erziehungsberechtigten eine konfessionelle oder bekenntnisfreie Schule treten.
Der Grundrechtsteil war eine aktualisierte und erweiterte Version der «Grundrechte des deutschen Volkes» in der Reichsverfassung von 1849. Mit verfassungsändernder Mehrheit konnte der Reichstag vom Wortlauf der Verfassung abweichen, ohne daß diese selbst geändert wurde. Änderungen der Verfassung setzte die Nationalversammlung kein anderes Hindernis entgegen als das der qualifizierten Mehrheit: Zwei Drittel der Abgeordneten mußten anwesend sein, zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Die Verfassung selbst trug also keinerlei Garantie gegen ihre Abschaffung in sich, sofern die notwendige Mehrheit zustande kam. Konstitutionelle Vorgaben, die dem Mehrheitswillen Schranken setzten, wären den Vätern und Müttern der Verfassung von 1919 geradezu als Rückfall in den Obrigkeitsstaat erschienen.
In der Schlußabstimmung sprach sich am 31. Juli 1919 eine breite Mehrheit für die neue Reichsverfassung aus: Von den 420 Mitgliedern nahmen 338 an der Abstimmung teil; 262 Abgeordnete stimmten mit Ja, 75 mit Nein; einer enthielt sich. Die Ja-Stimmen waren die der «Weimarer Parteien», der SPD, des Zentrums und der DDP, die Nein-Stimmen kamen von der USPD, den Deutschnationalen und der DeutschenVolkspartei. Am 11. August unterzeichnete Reichspräsident Friedrich Ebert, der vorläufig im Amt blieb, die Verfassung. Am 14. August trat sie durch Verkündung im Reichsgesetzblatt in Kraft. Eine Woche später, am 21. August 1919, nahmen Reichspräsident, Nationalversammlung und Kabinett Abschied von Weimar. Deutschland wurde fortan wieder von Berlin aus regiert.
Deutschland sei nun die «demokratischste Demokratie der Welt»; nirgends sei die Demokratie
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