Geschichte des Westens
Verlangen in einem Telegramm gebeugt hatte, bestieg Mussolini den legendären Schlafwagen, der ihn in der Nacht vom 29. zum 30. Oktober nach Rom brachte. Dort bildete er eine Regierung, in der er selbst auch die Ämter des Außen- und des Innenministers, der ehemalige Generalstabschef Armando Diaz das Amt des Kriegsministers und der Philosoph Giovanni Gentile das des Unterrichtsministers übernahmen.
Der «Marsch auf Rom» war nicht mehr als eine wirksame Drohkulisse gewesen – und damit etwas ganz anderes als das antike Vorbild dieser Inszenierung, die Eroberung Roms mit Hilfe römischer Legionendurch den Konsul Lucius Cornelius Sulla im Jahr 88 vor Christus. Die Willfährigkeit des Monarchen ersparte den Faschisten die tatsächliche Konfrontation mit der Staatsmacht. Als Mussolini am Morgen des 30. Oktober 1922 in Rom eintraf, lagerten seine etwa 25.000, nur teilweise bewaffneten Squadristen noch etwa 40 Kilometer vor der Hauptstadt. Sie zu schlagen wäre für Militär und Polizei ein leichtes gewesen, wenn der Wille dazu bestanden hätte. Mit der Erlaubnis des Königs durften sie am 31. Oktober vor seinem Palast demonstrieren; eine aktive Rolle bei der Machtübertragung spielten sie nicht. Die eingeschüchterte Kammer sprach dem neuen Ministerpräsidenten mit 306 zu 116 Stimmen das Vertrauen aus. Unter den Ja-Stimmen waren auch die Giolittis, Bonomis, Orlandos, Salandras und des damals 41 Jahre alten Abgeordneten Alcide de Gasperi von den Popolari, des späteren langjährigen Ministerpräsidenten und Führers der Democrazia Cristiana nach dem Zweiten Weltkrieg.
Vieles hatten Mussolini und die Faschisten von Lenin und den Bolschewiki gelernt: Nicht auf den Rückhalt bei einer Mehrheit der Wähler kam es an, sondern nur auf den festen Willen, die Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen und im entscheidenden Augenblick nach der Macht zu greifen. War dieser Wille vorhanden, dann konnte sich auch eine entschlossene Minderheit die politische Führung sichern. Die italienischen Faschisten hatten es viel leichter als die russischen Kommunisten, ans Ziel zu gelangen, weil sie, anders als diese, Verbündete im zivilen und militärischen Staatsapparat, finanzielle und politische Gönner bei den industriellen und agrarischen Eliten hatten und die bis dahin tonangebenden bürgerlichen Liberalen bis hin zu Intellektuellen vom Rang eines Benedetto Croce inzwischen davon überzeugt waren, daß eine Herrschaft der Faschisten ein bei weitem kleineres Übel war als die Fortdauer des Chaos der Nachkriegsjahre.
Der einzige ernstzunehmende Gegner, die sozialistische Arbeiterbewegung, hatte sich durch die von den Anhängern Lenins betriebene Spaltung und die Weigerung der nichtbolschewistischen Linken, mit gemäßigten bürgerlichen Kräften zu kooperieren, auf fatale Weise selbst geschwächt. Die verbreitete, von den Kommunisten geförderte Neigung vieler Arbeiter, in anarchistischer Manier, also ohne Rücksicht auf die Rechtsordnung, vollendete Tatsachen zu schaffen, lieferte den Faschisten den vollkommenen Vorwand, sich ihrerseits systematisch über das geltende Recht hinwegzusetzen.
Die Vertreter des Staates fanden sich mit der Eskalation der Gewalt erst von links, dann, sehr viel massiver, von rechts ab, als ob es sich um Ausbrüche von Naturgewalten handelte. Bereits im Januar 1921 beklagte der junge sozialistische Abgeordnete Matteotti in der Kammer die fortschreitende Preisgabe des staatlichen Gewaltmonopols: «Die Regierung und die örtlichen Behörden sehen ungerührt dem Umsturz von Recht und Ordnung zu. Es wird eine Privatjustiz praktiziert, die die öffentliche Justiz ersetzt … So sagen die Arbeiter, der demokratische Staat sei nur ein Scherz, er habe darauf verzichtet, das gleiche Recht für jedermann durchzusetzen.» Vier Jahre nach Kriegsende hatten die Faschisten erreicht, was sie wollten: Es war ihnen gelungen, einen großen Teil des bürgerlichen Italien glauben zu machen, daß nur sie in der Lage waren, den Zustand der Gesetzlosigkeit zu beenden, den sie selbst, die extreme Linke darin weit übertreffend, zielstrebig herbeigeführt hatten.
Die Legende vom «verstümmelten Sieg», die sie ebenso entschieden propagierten wie die bürgerlichen Nationalisten der Associazione Nazionalista Italiana, mit der sie sich im Februar 1923 vereinigten, war eine wichtige psychologische Grundlage ihres Erfolges, aber nicht die einzige. Der Faschismus hätte nach 1918 nicht zu der Bedeutung aufsteigen können, die
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