Geschichte des Westens
konsequenter durchgeführt als in dieser Verfassung: Als der sozialdemokratische Reichsinnenminister Eduard David am 31. Juli 1919 die Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung mit diesen Worten feierte, dachte er vor allem an das, was das republikanische Grundgesetz an Elementen direkter Demokratie enthielt. Von der Öffentlichkeit wurde die Verfassung mehr hingenommen als angenommen. Zu einem Symbol der Republik wurde sie erst im Gefolge von Haßkampagnen und Gewaltakten der extremen Rechten. Der Gewinn an politischer Freiheit, den die Weimarer Reichsverfassung den Deutschen brachte, war groß. Die Bewahrung der Freiheit in schwierigen Zeiten aber war durch die Verfassung nicht gesichert. Die «demokratischste Demokratie der Welt» war nicht nur durch die Kräfte bedroht, die sie ablehnten und bekämpften. Sie war vielmehr so verfaßt, daß sie sich selbst aufheben konnte.
Die Weimarer Verfassung war gerade sieben Monate alt, als Reichswehrminister Gustav Noske am 12. März 1920 dem Kabinett von Reichskanzler Gustav Bauer mitteilen mußte, daß es Bestrebungen zum Sturz der Regierung gebe. Als treibende Kräfte nannte Noske den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp und Hauptmann Waldemar Pabst, den Hauptverantwortlichen der Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919. Tatsächlich standen erhebliche Teile der Reichswehr hinter dem Vorhaben, das als «Kapp-Putsch» in die Geschichtsbücher einging. Seit der Vertrag von Versailles am 10. Januar 1920 in Kraft getreten war, steuerten führende Militärs mit dem Kommandierenden General des Reichswehrgruppenkommandos I in Berlin, dem Freiherrn von Lüttwitz, an der Spitze auf einen Konflikt mit der Regierung zu. Vielen Offizieren erschien die Vorstellung, das Reich könne der alliierten Forderung nachkommen, deutsche Kriegsverbrecher wenn schon nicht an die Sieger auszuliefern, so doch vor ein deutsches Gericht zu stellen, als unvereinbar mit ihrer Vorstellung von nationaler Ehre. Dazu kam die nochnicht abgeschlossene Reduzierung der Heeresstärke auf 100.000 Mann. Davon waren vor allem die Freikorps betroffen und unter ihnen besonders die «Baltikumer», die nach Kriegsende mit Billigung der Alliierten in Lettland und Estland gegen die Bolschewiki gekämpft hatten. Eines der Freikorps nannte Noske namentlich: die Marinebrigade Ehrhardt.
Politiker der äußersten Rechten, der Deutschnationalen, ostelbische Rittergutsbesitzer und monarchistische Beamte der altpreußischen Provinzen bildeten den zivilen Flügel der Verschwörung. Ihre Schaltstelle war die im Oktober 1919 unter dem Patronat Erich Ludendorffs gegründete Nationale Vereinigung in Berlin. Ihr Nahziel war die Errichtung eines autoritären, vorerst aber noch nicht monarchischen Regimes, das nach außen eine aktive Revisionspolitik treiben sollte.
Noskes Abwehrmaßnahmen erwiesen sich als unzulänglich. Am frühen Morgen des 13. März rückte die Marinebrigade Ehrhardt in Berlin ein; gegen 7 Uhr ergriff Kapp von der Reichskanzlei Besitz. Da die meisten Generäle, unter ihnen der Chef des Truppenamtes, Hans von Seeckt, militärische Gegenwehr für aussichtslos hielten, waren Reichspräsident Ebert, Reichskanzler Bauer und die meisten Minister kurz zuvor nach Dresden aufgebrochen, weil Noske den dortigen Kommandierenden General für loyal hielt. In der Reichshauptstadt erschien währenddessen ein Aufruf zum Generalstreik und zur Einigung des Proletariats, verfaßt vom sozialdemokratischen Pressechef der Reichsregierung und angeblich unterzeichnet von Ebert und den sozialdemokratischen Mitgliedern der Reichsregierung (die sich wenig später von dem Appell distanzierten).
Das Risiko des Generalstreiks lag darin, daß er schnell jeder Kontrolle entgleiten und in den offenen Bürgerkrieg umschlagen konnte: Daß Kommunisten und Syndikalisten sich damit begnügen würden, für die Wiedereinsetzung der Regierung Bauer zu kämpfen, war ausgeschlossen. Auf der anderen Seite gab es im Frühjahr 1920 gute Gründe, auf einen erfolgreichen Generalstreik zu setzen: In Deutschland herrschte zu dieser Zeit als Folge des inflationsbedingten Booms faktisch Vollbeschäftigung. Arbeiter, die in den Ausstand traten, mußten also nicht befürchten, daß Erwerbslose ihre Arbeitsplätze einnehmen würden. Ein Generalstreik gegen einen Militärputsch und für die verfassungsmäßige Staatsgewalt besaß eine unzweifelhafte demokratische Legitimation. Und es sprach viel dafür, daß es
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