Geschichte des Westens
er 1922 besaß, hätte es nicht auch andere ältere Vorbelastungen der italienischen Demokratie gegeben. Der immer noch nicht überwundene Analphabetismus großer Teile der Landbevölkerung im Süden gehörte dazu, ebenso das krasse materielle Gefälle zwischen dem entwickelten industriellen Norden und dem unterentwickelten agrarischen Mezzogiorno, die Jahrzehnte lang von vielen gläubigen Katholiken beherzigte Weisung der Kurie, sich nicht an Wahlen zu beteiligen, und die Weigerung eines Großteils der Sozialisten, sich den Regeln des parlamentarischen Systems entsprechend auf Kompromisse mit bürgerlichen Kräften einzulassen. Vertrauen in den demokratischen Staat konnte auf diese Weise nicht wachsen, und nichts nützte den Faschisten mehr als das weitgehende Fehlen dieser unabdingbaren Legitimitätsgrundlage jedes auf freien Wahlen beruhenden Systems.
Daß die Faschisten mit der Macht, die ihnen im Oktober 1922 kampflos zugefallen war, rücksichtslos umgehen würden, war eine der wenigen Gewißheiten jener Zeit. Mit der Errichtung einer Diktatur neuen Typs war zu rechnen, wenn man sich an das hielt, was Mussoliniund seine Unterführer in den Jahren zuvor erklärt hatten. Offen war, wie viel Zeit die Faschisten benötigen würden, um ihren Anspruch auf die ganze Macht durchzusetzen. Und noch eine Frage drängte sich auf, die erst die Zukunft beantworten konnte: War das, was im Herbst 1922 in Italien geschah, ein rein nationales Phänomen oder möglicherweise mehr – ein Beispiel, das Schule machen konnte in Ländern, die in ähnlicher Weise von sozialen, politischen und weltanschaulichen Konflikten zerrissen wurden wie die Apenninenhalbinsel?
Ein klarsichtiger Zeitgenosse, der deutsche Publizist Harry Graf Kessler, ahnte schon damals, wie die Antwort auf diese Frage ausfallen würde. Am 29. Oktober 1922 schrieb er in sein Tagebuch: «Die Fascisten haben durch einen Staatsstreich die Gewalt an sich gerissen in Italien. Wenn sie sie behalten, so ist das ein geschichtliches Ereignis, das nicht bloß für Italien, sondern für ganz Europa unabsehbare Folgen haben kann. Der erste Zug im siegreichen Vormarsch der Gegenrevolution. Bisher haben die gegenrevolutionären Regierungen z.B. in Frankreich wenigstens noch so getan, als ob sie demokratisch und friedlich seien. Hier kommt ganz offen eine antidemokratische, imperialistische Regierungsform wieder zur Macht. In einem gewissen Sinn kann man Mussolinis Staatsstreich mit dem Lenins im Oktober 17 vergleichen, natürlich als Gegenbild. Vielleicht leitet er eine Periode neuer europäischer Wirren und Kriege ein.»[ 14 ]
Zerreißproben einer Republik:
Deutschland 1919–1922
Deutschland hatte die revolutionären Kämpfe vom Frühjahr 1919 und die heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen um Annahme oder Ablehnung des Vertrags von Versailles bereits hinter sich, als das öffentliche Interesse sich im Sommer des ersten Nachkriegsjahres den Grundfragen der Verfassung zuzuwenden begann, an der die Nationalversammlung seit dem Februar arbeitete. Viele Entscheidungen waren bis zum Juni schon gefallen. Der Staat Preußen blieb erhalten, sollte aber sein tatsächliches Übergewicht nicht allzu stark zur Geltung bringen können: Obwohl er drei Fünftel der Bevölkerung des Deutschen Reichs umfaßte, durfte er im Reichsrat, dem föderativen Verfassungsorgan, nur zwei Fünftel der Sitze einnehmen. Diese entfielen zur einen Hälfte auf Regierungsvertreter, zur anderen auf Delegierteder Provinzialverwaltungen. Der Reichsrat hatte sehr viel weniger Mitwirkungsrechte im Bereich der Gesetzgebung als sein Vorläufer, der Bundesrat im Kaiserreich; es gab keine «Reservatrechte» der süddeutschen Staaten mehr wie zwischen 1871 und 1918. Im Endergebnis war das republikanisch verfaßte Reich unitarischer, als es die Föderalisten, und föderalistischer, als es die Unitarier gewünscht hatten.
Umstritten war lange Zeit die Gewichtsverteilung zwischen Parlament und Staatsoberhaupt. Die bürgerlichen Parteien strebten als Gegengewicht zum Reichstag einen stärkeren Reichspräsidenten an; die anfangs widerstrebenden Sozialdemokraten befreundeten sich mit diesem Gedanken erst nach den bürgerkriegsartigen Konflikten vom Frühjahr 1919. Sie stimmten der Direktwahl des Reichspräsidenten durch das Volk, der siebenjährigen Dauer seiner Amtszeit, der Möglichkeit der uneingeschränkten Wiederwahl und schließlich auch der endgültigen Fassung des Notverordnungsartikels 48 zu, wonach der
Weitere Kostenlose Bücher