Geschichte des Westens
als Chef einer bürgerlichen Minderheitsregierung noch bis Mai im Amt. In die Zeit seines zweiten Kabinetts fielen die Landtagswahlen vom 24. April 1931, bei denen ebenso wie bei den gleichzeitigen Kommunalwahlen in Kärnten und der Steiermark die Nationalsozialisten starke Stimmengewinne verbuchten und erstmals in die Parlamente einzogen. Am 20. Juni 1932 löste der bisherige christlichsoziale Land- und Forstwirtschaftsminister Engelbert Dollfuß Buresch ab. Der neue Bundeskanzler nahm Mitglieder des Landbundes und des Heimatblocks in sein Kabinett auf, was seiner Koalition einen Vorsprung von einer Stimme vor der Opposition aus Sozialdemokraten und Großdeutschen verschaffte.
Nur mit knapper Not überstand die Regierung Dollfuß im August 1932 die parlamentarische Auseinandersetzung um die Völkerbundsanleihe von 300 Millionen Schilling entsprechend dem Lausanner Protokoll vom 15. Juli, durch das Österreich sich verpflichtete, für die Dauer von 30 Jahren keine wirtschaftliche oder politische Union mit dem Deutschen Reich einzugehen. Im November 1932 setzte Dollfuß erstmals das Mittel einer Verordnung nach dem (niemals aufgehobenen) Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz von 1917 ein, umden Risiken des normalen Gesetzgebungsverfahren zu entgehen: ein deutliches Zeichen für die Krise des parlamentarischen Systems und den Willen des Kanzlers, das Staatsleben auf eine neue, autoritäre Grundlage zu stellen.
Am 4. März 1933 erwies das Präsidium des Nationalrats der Regierung ungewollt einen großen Dienst: Nach einem Konflikt um die richtige Auslegung der Geschäftsordnung bei der Abstimmung über ein Amnestiegesetz bewogen die Sozialdemokraten den Ersten Präsidenten, Karl Renner, zum Rücktritt, damit dieser mit seiner Fraktion stimmen konnte (was er als Präsident nicht tun durfte). Da sich seine beiden Stellvertreter diesem Schritt anschlossen, war der Nationalrat nicht mehr handlungsfähig. Dollfuß sah darin die Chance, ohne Parlament weiterzuregieren. Ein Einschreiten des Verfassungsgerichts verhinderte er dadurch, daß er die Anhänger der Christlichsozialen unter den Richtern zum Rücktritt veranlaßte, womit das höchste Gericht lahmgelegt war. Am 31. März 1933 erließ die Regierung ein Verbot des Republikanischen Schutzbundes und übertrug den als regierungsloyal geltenden Teilen der Heimwehr die Funktionen einer Hilfspolizei.
Das Vorgehen der Regierung Dollfuß war nicht mehr und nicht weniger als ein Staatsstreich. Die Abstützung auf die vom faschistischen Italien geförderten Heimwehrverbände unter Starhemberg und seinem Verbündeten Emil Fay bedeutete eine innen- und außenpolitische Annäherung an den Staat Mussolinis. Im März 1933, wenige Wochen nachdem in Deutschland Adolf Hitler an die Macht gekommen war, begann in Österreich der Aufbau eines autoritären, von seinen Kritikern bald als «austrofaschistisch» bezeichneten Systems, das sich freilich stärker als das italienische Vorbild an die katholische Kirche anlehnte und aus der 1931 verkündeten Enzyklika «Quadragesimo anno» von Papst Pius XI. das Ideal eines christlichen Ständestaates ableitete. Doch nur ein Teil der Heimwehrbewegung hatte sich auf die Seite von Dollfuß geschlagen. Der betont großdeutsche «Steirische Heimatschutz» verbündete sich unter dem Eindruck der deutschen Ereignisse ebenso wie die Großdeutsche Volkspartei mit den österreichischen Nationalsozialisten, die Ende April 1933 bei den Gemeindewahlen in Innsbruck mit einem Stimmenanteil von 41,2 Prozent zur stärksten Partei aufstiegen.
Die Sozialdemokratie wirkte wie gelähmt. Sie hatte durch den Rücktritt Renners die Selbstausschaltung des Nationalrats in Ganggesetzt und damit der Regierung Dollfuß einen Anlaß für die unbefristete Ausschaltung des Parlaments geliefert. Dennoch wäre in diesem Augenblick aktiver Widerstand demokratische Notwehr zwecks Rettung der Verfassung und damit legitim gewesen, und wenn es je Aussichten gab, die Etablierung der Diktatur zu verhindern, dann im März 1933. Daß die Sozialdemokratie sowohl den Putsch als auch seine unmittelbare Folge, das Verbot des Republikanischen Schutzbundes, tatenlos hinnahm, hing wohl auch mit dem Trauma vom Juli 1927 zusammen: Die Angst vor einem neuen Ausbruch blinder Massengewalt wirkte nach. Als die Sozialdemokraten auf einem Parteitag im Oktober 1933 bewaffneten Widerstand, unter anderem für den Fall eines Verbots von Partei und Gewerkschaften, ankündigten,
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