Geschichte des Westens
Armee. Für seine spätere Machtbasis war wichtig, daß er seit 1919 sowohl dem Polit- als auch dem Organisationsbüro der Kommunistischen Partei Rußlands angehörte und 1922 zum ersten Generalsekretär der Partei bestellt wurde. Was die marxistische Theorie anging, waren ihm die anderen führenden Bolschewiki, Lenin, Trotzki, Sinowjew, Kamenew und Bucharin, weit überlegen. Stalins Stärke lag, von seinem organisatorischen Talent abgesehen, in der instinktiven Fähigkeit, die Schwächen seiner Rivalen zu erkennen und Bündnisse zu schmieden, die seine Machtposition festigten.
Schon bevor Lenin am 21. Januar 1924 starb, hatte sich ein solches Bündnis, die Troika Stalin-Sinowjew-Kamenew, herausgeformt. Sie richtete sich gegen Trotzki, den einzigen unter den maßgeblichen Bolschewiki, der Lenin intellektuell ebenbürtig war. Trotzki, dem Schöpfer der Roten Armee und seit März 1918 Kriegskommissar, unterstellten nicht nur die Mitglieder des Triumvirats «bonapartistische» Neigungen, also das Streben nach einer auf das Militär gestützten persönlichen Diktatur. Außerdem verübelten ihm die Bolschewiki der ersten Stunde, daß er sich erst spät, im Juli 1918, der Partei und der Sache Lenins angeschlossen hatte. Als im Mai 1924, vier Monate nach dem Tod des Parteiführers, in einer Plenarsitzung des Zentralkomitees Lenins Testament mitsamt dem späteren, Stalin betreffenden Zusatz verlesen wurde, war es Sinowjew, der Stalin rettete: In bezug auf die Person des Generalsekretärs, erklärte er, hätten sich Lenins Befürchtungen nicht erfüllt. Auf das Drängen von Sinowjew und Kamenew blieb Stalin in seinem Amt – und Lenins Testament ein geheimes Parteidokument.
Mit der Bestätigung als Generalsekretär hatte Stalin das wesentlicheZiel bereits erreicht, das er mit dem Dreierpakt verfolgte. Als er seit dem Herbst 1924 begann, die Partei auf die Linie des «Aufbaus des Sozialismus in
einem
Lande» einzuschwören, richtete sich der Stoß nicht nur gegen Trotzki, den Hauptvertreter der «Revolution in Permanenz», sondern indirekt auch gegen Sinowjew, den Generalsekretär der Kommunistischen Internationale und Parteisekretär von Leningrad, bisher Petrograd und vorher Sankt Petersburg, und Kamenew, den ersten Mann der Moskauer Parteiorganisation. Beide hatten 1923, ebenso wie Trotzki, aktiv auf den «deutschen Oktober» hingearbeitet und waren durch den völligen Fehlschlag dieses kommunistischen Umsturzversuchs politisch geschwächt – wenn auch nicht in gleichem Maß wie Karl Radek, der Deutschlandexperte der Komintern, der ein Anhänger Trotzkis war. Im Januar 1925 mußte der letztere die Verurteilung seiner Thesen von der «permanenten Revolution» durch das Zentralkomitee hinnehmen und sein Amt als Kriegskommissar aufgeben. Er blieb aber noch, nachdem Stalin einen Antrag Sinowjews auf Ausschluß Trotzkis aus der Partei abgewehrt hatte, Mitglied des Politbüros.
Sinowjew und Kamenew galten als Vertreter der «Linken», der auf die Weltrevolution drängenden Kräfte. «Rechts» standen Nikolai Bucharin, der Chefredakteur der «Prawda» und Hauptprotagonist der von Lenin 1921 eingeleiteten «Neuen Ökonomischen Politik» (NEP), Alexei I. Rykow, der Vorsitzende des Rates der Volksbeauftragten, und Michail Tomski, der Führer der Gewerkschaften. Die drei «Rechten» im siebenköpfigen Politbüro verlangten in Reaktion auf einen Bauernaufstand in Georgien im Sommer 1924 eine entschieden bauernfreundliche Politik; Bucharin ging kurz vor der 14. Parteikonferenz Ende April 1925 soweit, die Bauern (in Anlehnung an eine dem französischen Liberalen François Guizot zugeschriebene Parole) aufzufordern: «Bereichert euch, entwickelt eure Bauernhöfe, fürchtet nicht, daß man einschränkende Maßnahmen gegen euch ergreifen wird». Stalin mißbilligte zwar diesen Appell, stimmte aber auf der Parteikonferenz für eine Senkung der Landwirtschaftssteuern und andere von den «Rechten» geforderte Maßnahmen zugunsten der Bauern.
Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1925 begannen Sinowjew und Kamenew, sich der Gefahr bewußt zu werden, die ihnen von Stalins strategischer Wende drohte, und gegen die «rechte» Revision der Landwirtschaftspolitik offen Front zu machen. Damit übernahmen siedie Rolle der Opposition gegen das neue, nun entstehende informelle Bündnis zwischen Stalin auf der einen, Bucharin, Rykow und Tomski auf der anderen Seite. Auf dem 14. Parteitag vom Dezember 1925, auf dem sich die Kommunistische
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