Geschichte des Westens
Getreide und der Verfütterung von Mehl an Schweine; an der mittleren Wolga kam es zu einer massenhaften Bauernerhebung.
Schon bevor im Sommer 1929 die Politik der staatlichen Getreideaufkäufe einsetzte, befanden sich große Teile der Sowjetunion in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand, der an den «Kriegskommunismus» der Jahre vor 1921 erinnerte. Am 27. Dezember 1929 gab Stalin dann das Signal zur «Offensive gegen das Kulakentum». Eine solche Offensive unternehmen heiße «das Kulakentum zerschlagen und als Klasse liquidieren … Eine Offensive gegen das Kulakentum unternehmen heißt sich sachgemäß vorbereiten und gegen das Kulakentum einen Schlag führen, und zwar einen Schlag, daß es sich nicht mehr aufrichten kann. Das nennen wir Bolschewiki eine wirkliche Offensive.»
Die Zahl der Kulaken oder Großbauern wird für die Zeit um 1929 auf 1,5 bis 2 Millionen geschätzt, die der Mittelbauern auf 15 bis 18 Millionen, die der Kleinbauern oder Muschiks, die mit dem Holzpflug arbeiteten, auf 5 bis 8 Millionen, die Gesamtzahl der russischen Bauern auf 25 bis 28 Millionen. Statistisch gesehen war die Kollektivierung ein voller Erfolg. Zwischen Oktober 1929 und Ende Januar 1930 wuchs der Anteil der kollektivierten Betriebe an der Gesamtzahl der Bauernwirtschaften von 4,1 auf 21 Prozent; bis zum 10. März 1930 stieg er auf 58 Prozent. Die Methoden, die bei der Vergesellschaftung der landwirtschaftlichen Betriebe angewandt wurden, waren brutal. «‹Kulakenfamilien› wurden enteignet und ausgesiedelt», schreibt Helmut Altrichter. «Die Bauern schlachteten ihr Vieh ab, bevor sie indie neugegründeten Kollektivwirtschaften (russisch: Kolchozy, davon deutsch: der Kolchos, die Kolchosen) eintraten. Welle um Welle überschwemmten Partei- und Sowjetfunktionäre, Miliz, Brigaden von städtischen Industriearbeitern und Gruppen des kommunistischen Jugendverbandes (Konsomol) die Dörfer, um die Kollektivierung voranzutreiben. Dorfversammlungen hatten entsprechende Beschlüsse zu verfassen, wer sich widersetzte, galt als ‹Kulak› oder ‹Kulakenknecht›. Ein Erfolgstaumel erfaßte die Aktivisten, und die Regierung tat nichts, um sie zu bremsen.»
Anfang März 1930 sah sich Stalin angesichts des unerwartet massiven Widerstands der Bauern dann doch genötigt, gewisse ungesetzliche Übertreibungen seiner Agenten scharf zu kritisieren und die Einstellung der Gewaltmaßnahmen gegenüber den «Muschiks» anzuordnen. Viele der neuen Kolchosen lösten sich daraufhin wieder auf; der Anteil der Kollektivbetriebe sank bis September 1930 von 58 auf 21 Prozent. Es kam zu neuen Massenerhebungen in der westlichen Ukraine, im zentralen Teil des Schwarzerdegebiets, im nördlichen Kaukasus und in Kasachstan. Die Folge war eine abermalige Verschärfung der Kollektivierungspolitik. Der Anteil der Kollektivbetriebe stieg nun wieder an: bis 1931 auf über die Hälfte, bis 1934 auf etwa drei Viertel aller Wirtschaften.
Die Frage, was aus den enteigneten Kulaken werden sollte, die mitsamt ihren Familienangehörigen 8 bis 10 Millionen Menschen ausmachten, hatte Stalin sich offenbar nie gestellt. Die GPU, die Geheimpolizei, teilte die Kulaken um die Jahreswende 1929/30 in drei Kategorien ein: erstens diejenigen, die in konterrevolutionäre Aktivitäten verwickelt waren und sofort verhaftet und in Arbeitslager deportiert, bei Widerstand aber auf der Stelle liquidiert werden sollten; zweitens die oppositionellen, aber nicht offen konterrevolutionären Kulaken, die zu verhaften und mitsamt ihren Familien in entlegene Gegenden Sibiriens zu deportieren waren; drittens die dem Regime gegenüber loyalen Kulaken, die außerhalb der kollektivierten Betriebe anzusiedeln und mit Meliorisationsarbeiten zu beschäftigen waren.
Bis zum Sommer 1930 hatte die GPU ein ausgedehntes Netz von Lagern, vor allem auf den Solowki-Inseln, an der Weißmeerküste von Karelien bis in die Gegend von Archangelsk aufgebaut. Mehr als 80.000 Häftlinge mußten als Sklavenarbeiter den Weißmeer-OstseeKanal («Stalinkanal») sowie Straßen und Eisenbahnlinien bauen, Torfstechen oder Holz fällen, weitere 15.000 Häftlinge des fernöstlichen Lagerverbandes die Eisenbahnlinie bis Bogutschatschinsk bauen. Der Lagerverband von Witschera mit 25.000 Lagerinsassen hatte die Aufgabe, das große Chemiekombinat von Beresniki im Uralgebiet zu errichten. In ersten Umrissen zeichnete sich bereits um 1930 das von Alexander Solschenizyn beschriebene Straflagersystem des
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