Geschichte des Westens
gleichen Jahr 1932 fest. «Für das Reich – gegen Versailles und die parlamentarische Demokratie … Man kann das Reich als das deutsche Menschenbild bezeichnen, das dem westlichen Humanitarismus entgegengestellt wird und sich doch von der östlichen Apokalyptik durch seine Verbundenheit mit der europäischen Geschichte unterscheidet.»
Die Reichsidee erlebte in den frühen dreißiger Jahren eine konfessionsübergreifende Renaissance. Sie ging regelmäßig einher mit einem Bekenntnis zum großdeutschen Gedanken, oft auch zu einem alle staatlichen Grenzen überwölbenden deutschen Volkstum. Die protestantischen wie die katholischen Reichsideologen sahen, seit es das Habsburgerreich nicht mehr gab, den Gegensatz zwischen «kleindeutsch» und «großdeutsch» ohnehin als überholt an, und sie wußten sich darin einig mit der zeitgenössischen deutschen Geschichtswissenschaft. Man konnte sich, um dem Westen und dem Staat von Weimar eine «positive» Antwort zu geben, auf die Idee eines übernationalen deutschen Reiches als mitteleuropäischer Ordnungsmacht oder auf das friderizianische Preußen berufen, aber auch beide Mythen gleichzeitig beschwören, und die meisten Autoren der «Konservativen Revolution» und namhafte deutsche Historiker taten das. Die mystische Überhöhung des «sacrum imperium» aber war vor allem ein Kennzeichen jenes Rechtskatholizismus, dem Papen zuzuordnen war. Es war ein Credo, das nicht nur politischen Gegnern Anlaß gab, am Wirklichkeitssinn des Reichskanzlers zu zweifeln.
Von der politischen Realität wurde Papen spätestens am 25. Oktober wieder eingeholt. An diesem Tag verkündete der Staatsgerichtshof beim Reichsgericht in Leipzig sein Urteil zum «Preußenschlag» vom 20. Juli 1932. Das Gericht erklärte die Verordnung des Reichspräsidenten für verfassungsmäßig, soweit sie den Reichskanzler zum Reichskommissar für das Land Preußen einsetzte und ihn ermächtigte, preußischen Ministern vorübergehend Amtsbefugnisse zu entziehen und diese selbst zu übernehmen. Die Ermächtigung durfte sichaber, so hieß es dann weiter wörtlich, «nicht darauf erstrecken, dem preußischen Staatsministerium und seinen Mitgliedern die Vertretung des Landes Preußen im Reichsrat oder gegenüber dem Landtag, dem Staatsrat oder gegenüber anderen Ländern zu entziehen».
Das Leipziger Urteil hob den vielbeklagten Dualismus zwischen Preußen und dem Reich nicht auf. Es gab vielmehr teils dem Kläger, teils dem Beklagten recht. Die preußische Staatsgewalt wurde dementsprechend zwischen der geschäftsführenden Regierung Braun und der vom Reich eingesetzten kommissarischen Regierung aufgeteilt. Diese behielt die tatsächliche Exekutivgewalt, jene als wichtigstes Recht die Vertretung Preußens im Reichsrat. Das Kabinett Braun gewann zwar keine reale Macht zurück, konnte es aber als Erfolg verbuchen, daß ihm eine schuldhafte Pflichtverletzung nicht nachzuweisen war. Die Reichsregierung übte weiterhin die Kontrolle über die staatlichen Machtbefugnisse des größten deutschen Einzelstaates, darunter seine Polizei, aus, mußte jedoch die Feststellung hinnehmen, daß sie am 20. Juli mit der Absetzung der preußischen Regierung verfassungswidrig gehandelt hatte. Dieses Verdikt traf auch den Reichspräsidenten, in dessen Namen die Maßnahme ergangen war. Wie immer man die Dinge drehen und wenden mochte: Für die Verfechter einer autoritären Reichsreform bedeutete der Urteilsspruch vom 25. Oktober 1932 einen Rückschlag.
Auf die zweite Reichstagswahl des Jahres 1932 wirkte sich das Leipziger Urteil kaum aus – ganz im Gegensatz zu einem Ereignis, das wenige Tage vor der Wahl im ganzen Reich Schlagzeilen machte: dem Streik bei der Berliner Verkehrsgesellschaft. Die Sensation bestand darin, daß bei diesem Ausstand, der am 3. November begann, Kommunisten und Nationalsozialisten gemeinsam gegen Staat und Gewerkschaften kämpften. Bei Straßenkämpfen am 4. November wurden drei Menschen durch Polizeikugeln getötet, acht schwer verletzt. Erst am 7. November, einen Tag nach der Reichstagswahl, kam der Verkehr in der Reichshauptstadt allmählich wieder in Gang.
Das herausragende Merkmal der Wahlen vom 6. November waren nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Reich starke Stimmenverluste der NSDAP. Gegenüber der vorangegangenen Wahl vom 31. Juli büßten die Nationalsozialisten über 2 Millionen Stimmen ein. Ihr Anteil sank von 37,3 auf 33,1 Prozent. Zu den Verlierern gehörte auch die SPD, die
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