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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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über 700.000 Stimmen weniger erhielt als im Juli und von21,6 auf 20,4 Prozent fiel. Gewinner waren die Deutschnationalen und die Kommunisten: Die Partei Alfred Hugenbergs legte über 900.000 Stimmen zu, was einem Zuwachs von 5,9 auf 8,9 Prozent entsprach; die KPD kletterte dank eines Zugewinns von rund 600.000 Stimmen von 14,5 auf 16,9 Prozent und von 89 auf die magische Zahl von 100 Mandaten. Bei den übrigen Parteien gab es nur geringe Veränderungen. Auffallend stark war der Rückgang der Wahlbeteiligung: Sie fiel gegenüber dem Juli von 84,1 auf 80,6 Prozent.
    Im Wahlergebnis schlug sich vor allem politische Frustration nieder. Die Wahl vom 6. November war, wenn man die beiden Wahlgänge der Reichspräsidentenwahl und die fünf Landtagswahlen vom 24. April mitrechnet, für die meisten Deutschen der fünfte Urnengang des Jahres 1932. Die NSDAP, die zuvor den größten Nutzen aus der Politisierung von bisherigen Nichtwählern gezogen hatte, war von Rückgang der Wahlbeteiligung am meisten betroffen: Gerade «unpolitische» Wähler mußten enttäuscht sein, daß ihre Stimmabgabe auf die praktische Politik kaum Einfluß hatte.
    Nicht zu übersehen war auch ein gewisser, obschon begrenzter Vertrauensgewinn des Kabinetts von Papen, ablesbar an dem vergleichsweise guten Abschneiden von DNVP und DVP (die letztere stieg von 1,2 auf 1,9 Prozent). Die Regierung und die sie stützenden Parteien zogen Nutzen aus den ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung, die sich als Erfolg von Papens, im September eingeleiteter aktiver Konjunkturpolitik deuten ließ. Dazu kam Ernüchterung über den politischen und sozialen Radikalismus der Nationalsozialisten. Das Zusammenspiel mit den Kommunisten beim Berliner Verkehrsstreik schockierte nicht nur in den Villenvierteln der Reichshauptstadt, sondern wirkte abschreckend auf viele bürgerliche Wähler in ganz Deutschland. Zu Triumphgefühlen hatte die Regierung dennoch keinen Anlaß: Fast neun Zehntel der Deutschen hatten für Parteien gestimmt, die in Opposition zum «Kabinett der Barone» standen.
    Die Stimmenverluste der Nationalsozialisten erfüllten ihre politischen Gegner, allen voran die Sozialdemokraten, mit Genugtuung: Sie wähnten Hitler bereits für endgültig geschlagen. Doch zugleich waren sie angesichts der Stimmengewinne der Kommunisten zutiefst beunruhigt. Der Abstand zwischen SPD und KPD war von 7,1 Prozentpunkten im Juli auf nunmehr 3,5 Prozentpunkte geschrumpft, hatte sich also halbiert. Führende Funktionäre gaben ihrer BefürchtungAusdruck, daß bei abermaligen Neuwahlen, etwa Anfang 1933, auf dem Höhepunkt der Massenarbeitslosigkeit, die Sozialdemokraten von den Kommunisten überholt werden könnten. War die KPD aber erst einmal die stärkste Arbeiterpartei, drohte aus sozialdemokratischer Sicht das, worauf die Kommunisten hofften: eine dramatische Zuspitzung der Krise, ja ihr Umschlag in eine revolutionäre Situation.
    Scharfsinnigen Beobachtern in Deutschland entging freilich nicht, daß im Zusammentreffen von kommunistischen Gewinnen und nationalsozialistischen Verlusten eher eine Chance für Hitler als für Thälmann lag. In der liberalen «Vossischen Zeitung» kommentierte Julius Elbau am 8. November: «Hundert Kommunisten im Reichstag! Wonnetaumel am 15. Jahrstag der Oktober-Revolution in Moskau! 89 haben keine Rolle gespielt, weder im Parlament, noch im Lande, aber hundert: das ist eine Sache, mindestens aber eine schöne runde Zahl. Und für Hitler ein wahres Gottesgeschenk.» Nach Meinung des Leitartiklers war nämlich abzusehen, «daß die Bürger, besinnungslos vor Angst, sich in die Arme des einzig wahren Patent-Retters flüchten». Die Angst vor dem Bürgerkrieg als nunmehr wichtigste Verbündete Hitlers: Elbaus Analyse traf ins Schwarze, und sie entsprach völlig dem Kalkül der führenden Nationalsozialisten in den Wochen nach der Novemberwahl.
    Am Zustand der «Verfassungslähmung», den der Staatsrechtler Johannes Heckel im Oktober 1932 diagnostiziert hatte, änderte sich durch den Wahlausgang vom 6. November nichts: Es gab weiterhin eine negative Mehrheit von Nationalsozialisten und Kommunisten; für eine parlamentarische Mehrheit hätte nun nicht einmal mehr ein Zusammengehen von NSDAP, Zentrum und Bayerischer Volkspartei ausgereicht; der Reichstag fiel, so wie die Dinge lagen, als konstruktives Verfassungsorgan aus. Reichsinnenminister von Gayl befürwortete am 10. November im Kabinett eine Rückkehr zum Staatsnotstandsplan

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