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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Deputiertenkammer. Der Senat aber votierte auf Betreiben des konservativen Joseph Caillaux am 7. April mit Nein. Tags darauf trat Blum zurück. Wäre es nach dem linken Flügel der SFIO um Pivert und die Fédération de la Seine gegangen, hätte sich der Ministerpräsident dem Beschluß der ersten Kammer widersetzt und die Massen zum Kampf gegen die konservative Obstruktionspolitik des Senats aufgerufen. Das wäre zwar kein Verfassungsbruch gewesen, aus Blums Sicht aber der Entfesselung der Revolution gleichgekommen.Dafür hielt er die Verhältnisse im Frühjahr 1938 nicht für reif, und deswegen dachte er keinen Augenblick lang an eine Kraftprobe mit dem Oberhaus des Parlaments.
    Das Scheitern des zweiten Kabinetts Blum markierte das Ende der Volksfront. Dieser Ausgang war nicht nur das Ergebnis des massiven Drucks von rechts, dem die Regierungen der Linken seit dem Juni 1936 von Anfang an ausgesetzt waren, sondern auch der Unerfahrenheit der Sozialisten in Regierungs- und Verwaltungsfragen: Von den Kriegsjahren 1914 bis 1917 abgesehen, hatte die SFIO noch nie Minister gestellt. Entsprechend abstrakt waren ihre Vorstellungen von der Ausübung der Macht, und dieser Mangel schlug sich in vielen, teilweise überhastet verabschiedeten Gesetzen nieder. Das doktrinäre Nein zur «participation ministérielle», dessen beredter Anwalt der theoretische Maximalist und praktische Antirevolutionär Léon Blum war, forderte, als es im Frühsommer 1936 schließlich aufgegeben wurde, seinen Preis.
    Vergeblich aber war das Wirken der Volksfrontregierungen keineswegs. Es brachte Frankreich einen großen Schritt voran auf dem Weg zum modernen Sozialstaat. Es trug dazu bei, die äußerste Linke in Gestalt der Kommunisten in das politische System der Dritten Republik zu integrieren und die äußerste Rechte in Schach zu halten. Daß Frankreich trotz der schweren wirtschaftlichen Krise nach 1936 nicht in revolutionäre Gewalt und Bürgerkrieg abglitt, war das Verdienst lernfähiger Kräfte in der Arbeiterschaft und auf dem linken Flügel des Bürgertums. In gewisser Weise holte Frankreich zwischen 1936 und 1938 jenen «Klassenkompromiß» nach, den in Deutschland die Revolution von 1918/19 gebracht hatte. Dauerhaft war dieser Kompromiß freilich in Frankreich so wenig wie in Deutschland. In beiden Fällen zerbrach die Koalition der sozialen Verständigung nach relativ kurzer Zeit an inneren Gegensätzen und dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit. In Deutschland wurde dieses Stadium im Juni 1920 erreicht, in Frankreich im Frühjahr 1938. Gleichwohl haben die Entscheidungen, die in der Zeit einer gesteigerten Reformpolitik getroffen wurden, auf beiden Seiten des Rheins noch lange nachgewirkt – zu erheblichen Teilen bis in die Gegenwart hinein.
    Blums Nachfolge trat am 10. April 1938 der Radikalsozialist Édouard Daladier an, der damit ein drittes Mal Regierungschef wurde. Er blieb bis zum 20. März 1940 im Amt, eine für die Dritte Republikungewöhnlich lange Zeit. Sein Kabinett bestand aus Radikalsozialisten, meist des rechten Flügels, und Mitgliedern der USR. Das Außenministerium übernahm der «rechte» Georges Bonnet, der als Vertreter einer französischen Variante des Appeasement, eines «apaisement» gegenüber Deutschland, galt. Der neue Ministerpräsident erhielt von beiden Kammern des Parlaments die Vollmachten, die der Senat Blum verweigert hatte. Bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage stimmten auch SFIO und PCF, um Frankreich nicht weiter zu destabilisieren, für Daladier. Der äußerste linke Flügel der Sozialisten um Piverts Fédération de la Seine, der gegen die parlamentarische Unterstützung der Regierung rebellierte, wurde auf dem Parteitag von Rouen im Juni 1938 aus der SFIO ausgeschlossen: eine Mahnung an die verbleibende Linke, den Kurs der Führung nicht weiter zu bekämpfen.
    Im Verlauf des Sommers wurde aber immer deutlicher, daß Daladier mit Hilfe seiner «décrets-lois» die Reformpolitik der Volksfrontregierungen nicht fortsetzen, sondern teilweise rückgängig machen wollte. Als der Ministerpräsident am 21. August über den Rundfunk die Parole ausgab, es gelte «Frankreich wieder an die Arbeit zu schicken», und eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit in der Rüstungsindustrie ankündigte, verließen die beiden Kabinettsmitglieder der USR, Arbeitsminister Paul Ramadier und der Minister für Öffentliche Arbeiten Ludovic-Oscar Frossard, die Regierung. Ihre beiden Nachfolger

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