Geschichte des Westens
Deutschland – Italien als Erbe der ‹Pax Romana›, Deutschland als Erbe des ‹Sacrum Imperium› …»
Im Jahr darauf veröffentlichte Karl Richard Ganzer, der wenig später die kommissarische Leitung des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands übernahm, seine Schrift «Das Reich als europäische Ordnungsmacht». Die wesentliche Botschaft war in einem hervorgehobenen Satz enthalten: «Der deutsche Kern organisiert kraft seiner höheren politischen Potenz um sich als bestimmende Mitte eine Gruppe andersgearteter Räume, die völkisch eigenständig sein können, zu einer politischen Gemeinschaft; in ihr sind die deutsche Führung und die andersvölkische Eigenständigkeit in organischer Stufung ausgewogen.»
Für Hitler war freilich «andersvölkische Eigenständigkeit» auch im Westen Europas nichts, was sein Handeln leitete. Schon vor dem Krieg,im Mai 1937, hatte er von der «zukünftigen Liquidation des Westfälischen Friedens» geträumt. Am 7. November 1939 notierte Goebbels nach einem Gespräch mit Hitler: «Der Schlag gegen die Westmächte wird nicht lange mehr auf sich warten lassen. Vielleicht gelingt es dem Führer eher, als wir alle denken, den Westfälischen Frieden zu annullieren. Damit wäre dann sein geschichtliches Leben gekrönt.» Zehn Tage später kam Hitler auf dieses Thema zurück. «Der Führer spricht über unsere Kriegsziele», hielt Goebbels am 17. November fest. «Wenn man schon einmal anfängt, dann muß man auch die fälligen Fragen lösen. Er denkt an eine restlose Liquidation des Westfälischen Friedens, der in Münster geschlossen worden ist und den er in Münster beseitigen will. Das wäre unser großes Ziel. Wenn das gelungen ist, dann können wir beruhigt die Augen schließen.»
Den Frieden von Münster und Osnabrück rückgängig zu machen: Das war die Umschreibung des Wunsches, die europäische Landkarte völlig neu zu zeichnen und dem Reich zur dauerhaften Vorherrschaft über den Kontinent zu verhelfen. Die Wiederherstellung der Westgrenze des Heiligen Römischen Reiches, wie sie vor dem Dreißigjährigen Krieg verlaufen war, wäre in diesem Zusammenhang wohl nur eine Mindestbedingung gewesen. Bei
einer
Gebietsforderung ging Hitler schon im Herbst 1939 sehr viel weiter. Als er sich am 3. November, nach Goebbels’ Zeugnis, anschickte, französische Provinzen aufzuteilen, nahm er Burgund für die Aussiedlung der Südtiroler in Aussicht, die sich auf Grund einer deutsch-italienischen Übereinkunft vom 23. Juni 1939 bis Ende des Jahres entscheiden mußten, ob sie nach Deutschland auswandern oder als italienische Staatsbürger ohne Sonderrechte in Italien verbleiben wollten.
Nach dem Sieg über Frankreich tat das Regime erste Schritte, um den Gedanken in die Tat umzusetzen. Am 10. Juli 1940 brach Heinrich Himmler zu einer Besichtigungsfahrt nach Burgund auf. Es galt die Frage zu prüfen, wie das Gebiet durch Ansiedlung deutscher Bauernfamilien germanisiert werden konnte. Ende Dezember 1940 lag ein Gutachten vor, das den Siedlerbedarf für neun französische Departements auf eine Million Menschen bezifferte.
Die Eindeutschung Burgunds war Teil jener «großgermanischen Politik», die Hitler im Frühjahr 1940 proklamierte. Am 9. April, dem Tag des deutschen Überfalls auf Dänemark und Norwegen, erklärte er vor seinen engsten Mitarbeitern: «So wie im Jahre 1866 (nach dempreußischen Sieg über Österreich, H. A. W.) das Reich Bismarcks entstand, so wird am heutigen Tag das Großgermanische Reich entstehen.» Vor dem Krieg hatte Hitler bei «Germanisierung» an die Eroberung von Lebensraum im Osten, in den Weiten Rußlands, gedacht. Doch von Rußland sprach er seit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 nicht mehr, wenn er das Reich der Zukunft entwarf. Im «Großgermanischen Reich» sollten sich unter deutscher Führung germanische Völker wie Dänen, Norwegen, Niederländer und Flamen zu einem Gebilde zusammenschließen, das sich durch rassische Reinheit auszeichnete, aber kein Nationalstaat mehr gewesen wäre.
Hitler erweckte damit die alte, vornationale Idee des «Germania magna» wieder zum Leben, die schon von deutschen Humanisten um 1500 und zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Ernst Moritz Arndt beschworen worden war, die unter den Bedingungen des Jahre 1940 jedoch wie ein «postnationales» Projekt wirkte. Neben dem «Großgermanischen Reich» hätten sich nur Italien und, wenn es denn zur Verständigung mit
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