Geschichte des Westens
die tschechischen Abgeordneten des Reichsrates erging die Aufforderung, sich entweder diesem historischen Anlaß gewachsen zu zeigen oder ihr Mandat niederzulegen.
Am 29. Mai, einen Tag bevor der Reichsrat nach über dreijähriger Zwangspause wieder zusammentrat, stimmten die tschechischen Abgeordneten dem Entwurf einer Erklärung zu, die tags darauf zur Bestürzung der Regierung und der deutschen Volksvertreter im Plenum verlesen wurde. Darin übten die Tschechen eine bisher unerhörte Fundamentalkritik am dualistischen Staatsaufbau der Doppelmonarchie, der herrschende und unterdrückte Völker geschaffen habe, und verlangten die «Umgestaltung der Habsburgisch-Lothringischen Monarchie in einen Bundesstaat von freien und gleichberechtigten nationalen Staaten … Indem wir uns daher in diesem geschichtlichen Moment auf das natürliche Recht der Völker auf Selbstbestimmung und freie Entwicklungstützen, … werden wir an der Spitze unseres Volkes die Verbindung aller Stämme des tschechoslowakischen Volkes zu einem demokratischen Staat anstreben, wobei nicht außer Acht gelassen werden kann jener tschechoslowakische Stamm, welcher zusammenhängend an den historischen Grenzen unseres böhmischen Vaterlandes lebt» – also die Slowaken.
Die Slowaken sprachen nicht dieselbe, aber eine sehr ähnliche Sprache wie die Tschechen. Historisch hatten sich beide Völker jedoch sehr unterschiedlich entwickelt. Die Slowakei bildete einen Teil der transleithanischen, ungarischen Reichshälfte der Donaumonarchie, Böhmen und Mähren, wo die Tschechen lebten, einen Teil von Cisleithanien. Böhmen galt seit jeher als Teil des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, Mähren, das seit 1029 mit Böhmen lehensrechtlich verbunden war, ebenso. Die Könige von Böhmen gehörten zur Kurfürstenkurie des Reiches; nach der Verbindung der Dynastie der Przemysliden mit dem Haus Luxemburg stellten sie im 14. und 15. Jahrhundert mehrfach den deutschen Kaiser. 1526 fielen Böhmen und Mähren an die Habsburger; von 1815 bis 1866 waren die beiden habsburgischen Kronländer, anders als Ungarn oder Galizien, Teile des Deutschen Bundes. Während des Ersten Weltkrieges hatten sich tschechische und slowakische Exilpolitiker in Amerika auf eine gemeinsame Staatlichkeit verständigt. Inwieweit sie dabei für ihre Völker sprachen, blieb einstweilen offen. Auch ein anderes Problem war noch nicht gelöst: Die tschechischen Nationalisten beriefen sich Wien und der Welt gegenüber auf das Naturrecht der nationalen Selbstbestimmung. Gegenüber den Deutschen Böhmens und Mährens, die meist in geschlossenen Siedlungsgebieten lebten, sollte dagegen das historische böhmische Staatsrecht gelten, woraus sich das Beharren auf der Unteilbarkeit des Territoriums ergab.
Die Erklärung vom 29. Mai 1917 forderte noch nicht die Auflösung des Habsburgerreiches, sie bekannte sich aber auch nicht mehr zu seiner Aufrechterhaltung. Im Reichsrat arbeiteten die tschechischen Abgeordneten eng mit den südslawischen, das heißt meist slowenischen Parlamentariern aus Kärnten, der Steiermark, Krain, Istrien und dem Küstenland um Triest zusammen. Diese im Südslawischen Klub zusammengeschlossenen Parlamentarier verlangten am 30. Mai im Reichsrat die Vereinigung aller von Serben, Kroaten und Slowenen bewohnten Gebiete, was, da die habsburgischen Serben und die meisten(außer den istrischen) Kroaten in Transleithanien lebten, die Sprengung des österreichisch-ungarischen Dualismus bedeutete. Auch außerhalb des Reichsrats gab es, aktiv gefördert von Masaryk, Bemühungen um eine Einigung der Südslawen. Im Juli 1917 schlossen der serbische Exil-Ministerpräsident Nikola Pašić und der kroatische Exilpolitiker Ante Trumbić als Vorsitzender des Südslawischen Komitees das Abkommen von Korfu, das ein gemeinsames Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen vorsah, auf den von den Kroaten gewünschten föderalistischen Staatsaufbau aber nicht einging.
Ähnliche Bestrebungen verfolgten die ruthenischen Abgeordneten des Reichsrats. Sie gaben am 30. Mai 1917 zu Protokoll, daß sie das gegenwärtige Kronland Galizien für eine «künstlich geschaffene administrative Einheit» hielten, die im Widerspruch mit den historischen und nationalen Rechten stehe und darum zugunsten einer von Polen unabhängigen Einheit der ukrainischen Länder, einschließlich der von Ukrainern bewohnten Gebiete Russisch-Polens und Weißrußlands überwunden werden müsse. Zurückhaltung übten
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