Geschichte des Westens
dagegen die polnischen Parlamentarier. Sie begnügten sich damit, eine Erklärung über die nationalen Fragen anzukündigen, die im Lichte einer am 28. Mai in Krakau verabschiedeten Resolution gehalten sein werde. Darin hatten die polnisch-galizischen Mitglieder des Reichsrats sich zu einem machtvollen polnischen Staat mit Zugang zum Meer bekannt.
Seit Beginn des Jahres 1918 spitzte sich die innere Krise des Habsburgerreiches immer mehr zu. Am 6. Januar forderte der Tschechische Verband in seiner «Dreikönigserklärung» einen Frieden, der auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruhe und alle Nationen befreie, die unter der Fremdherrschaft litten. (Auch die Sozialisten, bei denen sich inzwischen die habsburgfeindlichen Kräfte durchgesetzt hatten, stimmten zu.) Den Januarstreiks, von denen schon die Rede war, folgte am 1. Februar die Meuterei der fünften Flotte im Golf von Cattaro, wobei die Marinekapelle die Marseillaise anstimmte und auf allen Schiffen rote Fahnen gehißt wurden. Die Forderungen der Anführer waren nach dem Urteil des tschechischen Historikers Zbynek A. Zeman ein «Gemisch aus bolschewistischen Schlagworten und den Programmen der Emigranten»; die Erhebung war nicht bloß eine Hungerrevolte, sondern auch ein sorgfältig vorbereiteter politischer Protest. Die Aktion brach zusammen, als am 3. Februar die dritte Flotte im Golf von Cattaro eintraf und die Matrosen begannen, den Führern desAufstands die Gefolgschaft zu verweigern. Unter den 40 Matrosen, die nach der Niederwerfung der Erhebung angeklagt wurden, stellten die Tschechen mit sieben die größte nationale Gruppe, die übrigen waren Deutsch-Österreicher, Italiener, Südslawen und Polen.
Die weitere Entwicklung war zu einem guten Teil eine Folge der deutschen Frühjahrsoffensive von 1918 und der immer engeren Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, wie sie Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Karl bei dessen Besuch im deutschen Hauptquartier in Spa vereinbart hatten. Die politische Antwort der Westmächte war die nunmehr in entschiedenem Ton vorgetragene Forderung nach dem vollen Selbstbestimmungsrecht der Völker der Donaumonarchie, also der Auflösung des Habsburgerreiches. Im April verlangten Exilpolitiker aus allen Teilen der Doppelmonarchie auf einem von Italien und Frankreich unterstützten «Kongreß der unterdrückten Völker» in Rom die Beseitigung des Vielvölkerreiches, das ein Instrument der deutschen Herrschaft sei. Die Vertreter der italienischen und der «südslawischen Nation» vereinbarten eine Erklärung, den sogenannten «Patto di Roma», worin sie sich auf die Befreiung des Adriatischen Meeres, einen freundschaftlichen Ausgleich territorialer Streitfälle und den Schutz der jeweiligen Minderheit festlegten. (Der von der Entente im Londoner Geheimvertrag vom April 1915 anerkannte italienische Anspruch auf Triest, Istrien, mehrere istrische Inseln und große Teile der dalmatinischen Küste blieb unerwähnt.) Am 28. Juni 1918 forderte nach langem Zögern auch Präsident Wilson ausdrücklich, daß «alle Völker slawischer Rasse vom österreichischen Joch befreit» werden müßten.
Währenddessen verschlechterte sich die Wirtschaftslage Österreich-Ungarns dramatisch. Mitte 1918 beliefen sich die Reallöhne der Arbeiter auf etwas mehr als die Hälfte des Vorkriegsniveaus; gleichzeitig waren die Preise inflationär gestiegen. Die Bevölkerung vor allem Cisleithaniens litt unter einer Hungersnot: Die Ernte des Jahres 1918 erreichte nicht einmal 50 Prozent, die industrielle Produktion, wenn man von den Kriegsgütern absah, etwa 40 Prozent des Standes von 1913. Die Kohleproduktion war zwischen 1914 und 1917 um 95 Prozent zurückgegangen. In der Arbeiterschaft gärte es erneut; revolutionäre Parolen fielen angesichts der sozialen Not auf fruchtbaren Boden.
In Ungarn kamen noch besondere politische Bedingungen hinzu, die die Radikalisierung gedeihen ließen. Bis ins letzte Kriegsjahrwidersetzten sich die adligen Großgrundbesitzer und die ihnen nahestehenden politischen Kräfte hartnäckig der Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Kaiser Karl zwang schließlich den Ministerpräsidenten István Tisza, einen entschiedenen Gegner der Reform, im Mai 1917 zum Rücktritt. Doch erst seinem Nachfolger Sándor Wekerle gelang es im Juli 1918 gegen starke parlamentarische Widerstände, eine bescheidene Demokratisierung des Wahlrechts durchzusetzen: 13 Prozent der Bevölkerung durften nunmehr
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