Geschichte des Westens
Es gestattete der Kirche die Wahl ihrer Patriarchen, die Wiedererrichtung des Heiligen Synod als Kirchenregierung, die Wiederzulassung der 1936 verbotenen Moskauer Patriarchatszeitung und die Wiedereröffnung einiger theologischer Seminare und Akademien. Die Kirche erfreute sich eines wachsenden Zulaufs von Gläubigen, namentlich von Soldaten, und revanchierte sich für das Entgegenkommen des kommunistischenRegimes mit pathetischen Bekundungen ihrer Loyalität und ihres Patriotismus.
Flankiert wurde die Rückbesinnung auf vorrevolutionäre Traditionen und Institutionen durch die Anstachelung zum Haß auf die deutschen Invasoren. Kein Autor wurde von Sowjetsoldaten so intensiv gelesen wie der Schriftsteller Ilja Ehrenburg, dessen Artikel regelmäßig in der Armeezeitung «Krasnaja Swesda» (Roter Stern) erschienen. Am 23. August 1942, als die Deutschen bereits auf Stalingrad vorrückten, schrieb er, alles könne man ertragen, Not, Hunger und Tod, nicht aber die Deutschen. «Heute gibt es nur einen Gedanken: Die Deutschen töten, sie töten und in der Erde verscharren … Wir werden sie alle töten. Aber wir müssen es schnell tun, sonst werden sie ganz Rußland entweihen und noch Millionen zu Tode quälen.» Tags darauf gab Ehrenburg die Parole aus: «Wenn du einen Deutschen getötet hast, bring den nächsten um – es gibt nichts Schöneres als deutsche Leichen.»
Der Haß auf die Deutschen wurde nicht nur durch das geschürt, was diese den von ihnen als rassisch minderwertig erachteten Völkern der Sowjetunion antaten. Besonders erbitterte es viele Russen, daß die Deutschen im Baltikum, in der Ukraine und im Kaukasus zunächst oft als Befreier begrüßt wurden. Ganze Nationalitäten gerieten dadurch in den kollektiven Verdacht, Sympathisanten der Feinde zu sein. Als erste waren davon Sowjetbürger deutscher Herkunft, obenan die Wolgadeutschen, betroffen. Bereits im August 1941 ließ die Regierung in Moskau eine halbe Million von ihnen aus ihrem angestammten Siedlungsgebiet, in dem sie zum Teil schon seit der Zeit Katharinas der Großen lebten, nach Kasachstan und Sibirien deportieren und die Autonome Republik der Wolgadeutschen auflösen. Insgesamt waren 80 Prozent aller ethnischen Deutschen von den Umsiedlungsmaßnahmen betroffen. Ein ähnliches Schicksal erlitten alle der Kollaboration mit den Aggressoren bezichtigten Nationalitäten, so die Tschetschenen, Inguschen, Karatschaier, Balkaren, Mescheten und die Krimtataren. Von den letzteren kamen im Zuge der Deportation und Neuansiedlung in Zentralasien etwa 45 Prozent um. In den ehemaligen Wohngebieten der vertriebenen Ethnien wurde die Erinnerung an sie und ihre Kultur von Amts wegen ausgelöscht.
Die sowjetische Zivilbevölkerung hatte, wo immer sie von den Kämpfen unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen wurde, Furchtbares zu erdulden, aber nirgendwo so Schreckliches wie in Leningrad.Von den 3 Millionen Bewohnern starben während der fast 900 Tage währenden Belagerung, die im September 1941 begann und erst im Januar 1944 endete, zwischen 600.000 und 800.000. Die systematische Aushungerung durch die Deutschen führte zu vielen Fällen von Brotraub, Plünderungen und auch von Kannibalismus. Schon bei Brotraub reagierte das NKWD häufig mit Erschießungen. Wer seinen Arbeitsplatz während der ununterbrochenen Arbeitswoche unerlaubt verließ, wurde wegen Fahnenflucht vor Gericht gestellt. Auf «Bummelei» standen Haftstrafen. Wäre der Roten Armee in den Wintermonaten nicht eine minimale Versorgung der eingeschlossenen Stadt gelungen, hätte sich Rußlands «Tor zum Westen» bis 1944 in eine Totenstadt verwandelt.
Was Leningrad an Terror seitens des NKWD erlebte, war nichts Singuläres. Überall, wo die Wehrmacht vorrückte, liquidierten oder deportierten die Truppen des sowjetischen Innenministeriums vorher wirkliche oder vermeintliche Regimegegner, am blutigsten in Ostpolen, in der westlichen Ukraine, im ehemals polnischen Teil Weißrußlands und im Baltikum. In Lemberg töteten die Tschekisten auf Grund eines ausdrücklichen Befehls von NKWD-Chef Berijà vom 24. Juni 1941 etwa 3500 ihrer Gefangenen, nachdem sie sie zuvor auf bestialische Weise gefoltert hatten. Insgesamt wurden allein in Ostpolen nach fundierten Schätzungen zwischen 20.000 und 30.000 Menschen Opfer der Tscheka. Sie starben durch Massenerschießungen, Prügelorgien, Folter und Vergewaltigung bis zum Tod und durch Todesmärsche. Im Oktober 1941, als die Panik im Funktionärskörper
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