Geschichte Hessens
Darmstädter Möbelindustrie.
Parteien und Wahlen.
Das politische Leben im Großherzogtum wurde in den Jahren des Kaiserreichs weitgehend von den Nationalliberalen dominiert. Allerdings wuchs die Bedeutung der Sozialdemokratie stetig an, vor allem in den industrialisierten Gebieten um Mainz und Offenbach. Gegen die Bedenken des liberal gesinnten und auf Ausgleich bedachten Großherzogs Ludwig IV. (1837–1892) waren die Bestimmungen des Bismarckschen Sozialistengesetzes ab 1878 in Hessen-Darmstadt zur Anwendung gelangt, wenngleich die praktische Durchführung dort weniger restriktiv gehandhabt wurde als andernorts. Doch kam es auch in Darmstadt zu Verboten sozialdemokratischer und gewerkschaftlicher Vereine. In der preußischen Provinz Hessen-Nassau waren darüber hinaus Zeitungen der SPD von dem Verbot betroffen. Verhindert werden konnte deren Aufstieg durch solche Repressalien bekanntermaßen nicht. 1881 zogen für die Wahlkreise Hanau und Offenbach erstmals hessische Sozialdemokraten in den Deutschen Reichstag ein, 1884 ging auch der Wahlkreis Frankfurt am Main an die SPD.
Während bei den Wahlen zum Deutschen Reichstag in allen Teilen Hessens das allgemeine und gleiche Wahlrecht galt, wurde der Landtag des Großherzogtums Hessen-Darmstadt ebenso gemäß den Bestimmungen eines Zensuswahlrechts gewählt wie das preußische Abgeordnetenhaus in Berlin, in das die Bürger der Provinz Hessen-Nassau ihre Vertreter entsandten. Das Dreiklassenwahlrecht bestand in der preußischen Provinz Hessen-Nassau bis zum Ende des Kaiserreichs, im Großherzogtum Hessen-Darmstadt hingegen wurde 1911 ein neues Landtagswahlrecht eingeführt. Es brachte insofern eine weitere Demokratisierungdes politischen Lebens, als nun die Abgeordneten von allen steuerzahlenden männlichen Staatsbürgern über 25 Jahre direkt und geheim gewählt wurden. Allerdings gewährte man den über 50jährigen eine «Zusatzstimme», um der Lebenserfahrung älterer Wähler politisches Gewicht zu verleihen. Auch in den letzten Vorkriegsjahren blieben die Nationalliberalen im Darmstädter Landtag – vor den jeweils etwa halb so großen Fraktionen der SPD, des Zentrums und der Fortschrittspartei – stärkste politische Kraft, dicht gefolgt vom «Hessischen Bauernbund», der deutlich judenfeindliche Zielsetzungen verfolgte.
Antisemitismus.
Überhaupt war Hessen eine zeitlang, zumal in den 1890er Jahren, eine Hochburg antisemitischer Parteien, die stärkste im ganzen Reich. 1887 war der Marburger Bibliothekar, Publizist und Volksliedforscher Otto Böckel (1859–1923) für den Wahlkreis Marburg-Frankenberg in den Reichstag gewählt worden, dem er über fünfzehn Jahre lang angehören sollte (bis 1903). 1890 gründete er die «Antisemitische Volkspartei» (seit 1893: «Deutsche Reformpartei»), unter deren Einfluß der ebenfalls seit 1890 existierende und von Böckel geführte «Mitteldeutsche Bauernverein», ein Vorläufer des «Hessischen Bauernbundes», in den agrarisch geprägten Regionen Oberhessens und im südhessischen Odenwald eine rabiat antisemitische Agitation entfachte. Ihr Höhepunkt war 1893 erreicht, als die «Deutsche Reformpartei» elf Reichstagsmandate erringen konnte, acht davon in Hessen. Böckel und seine Partei warben mit adelsfeindlichen und antikapitalistischen Parolen und bedienten sich dabei des Klischees vom «Viehjuden», der als Getreide- und Nutztierhändler die Bauern drangsaliere, sowie der Legende vom jüdischen Großkapitalisten, der die unbemittelten Arbeiter als Opfer seiner Börsenspekulationen in den Ruin treibe. Daß solche Propaganda-Parolen zeitweise erhebliche Resonanz fanden, verwies auf soziale Verwerfungen und auf angestautes gesellschaftspolitisches Konfliktpotential im Land. Der Erfolg der Antisemiten-Partei in Hessen darf indes auch nicht überschätzt werden. Nach 1900 versank sie, übrigens reichsweit, in die politische Bedeutungslosigkeit, und sowohl die Darmstädterals auch die Kasseler Regierung setzten der Agitation der Antisemiten energischen Widerstand entgegen.
Soziale Lage.
Zum Schwinden der antisemitischen Erfolge in Hessen, die sich eben nicht zuletzt aus sozialen Mißstimmungen herleiteten, mochte auch die Tatsache beitragen, daß sich die Situation der weniger bemittelten Schichten in den beiden letzten Jahrzehnten des Kaiserreichs sichtlich verbesserte. 1910 waren die Reallöhne der Arbeiter im Vergleich zum Jahr 1870 um durchschnittlich 90 % gestiegen, gerade in hessischen Betrieben war
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