Geschichte Hessens
1830 und 1875 von 49.000 auf 103.000 mehr als verdoppelte, profitierte nach der Reichseinigung 1871 von dem nun einsetzenden «Gründerboom». In den ersten Jahren des Kaiserreichs überflügelte die Stadt als Börsenzentrum kurzzeitig sogar die Berliner Konkurrenz. Um dem Ansturm gewachsen zu sein, wurde die Errichtung eines neuen Börsengebäudes beschlossen, das 1879 fertiggestellt war – eine imposante Architekturschöpfung im Baustil der italienischen Neo-Renaissance. Darüber hinaus formierten sich in der Epoche des Kaiserreichs zunehmend große Aktiengesellschaften, deren Verwaltungsbauten neben den Großbanken das Bild der Stadt zu prägen begannen. Jetzt kam die große Zeit der international agierenden Frankfurter Bankiersfamilien – der Bethmanns (seit 1748), der Metzlers (seit 1674), der Rothschilds (seit 1780), mit ihren europäischen Kapitalverflechtungen und mit ihrer Tradition grenzüberschreitenden Geld-, Waren- und Güterverkehrs. Ihre Tätigkeit reichte weit über den deutschen Handels- und Währungsraum hinaus und machte Frankfurt zum Zentrum des Geschäfts mit Staatsanleihen, Schuldverschreibungen und Wertpapieren. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Frankfurter Rothschild-Bank die unbestritten größte deutsche Privatbank.
Auch im Bildungs- und Wissenschaftssektor brachte die preußische Verwaltung für die 1866 annektierten Gebiete Kurhessen und Nassau in den Jahrzehnten des Kaiserreichs einen deutlichen Aufschwung. Das Analphabetentum, vor allem im ehemaligen Kurfürstentum Hessen zu Beginn der 1870er Jahre noch in überdurchschnittlich hohem Maß verbreitet, war um die Jahrhundertwende verschwunden. In der Provinzhauptstadt Kassel, wie auch in Wiesbaden, entstanden zahlreiche neue Kulturbauten – Museen und Galerien ebenso wie Bibliotheken und Theater. Ab 1872 erhielt die Universität Marburg durch umfassende Neubaumaßnahmen des preußischen Kultusministeriums ihr heutiges Gepräge. Im Oktober 1914 schließlich startete dievon wohlhabenden, zum Teil jüdischen Bürgern gestiftete Universität in Frankfurt am Main trotz des Kriegsausbruchs mit 618 eingeschriebenen Studierenden ihren Lehrbetrieb. Es war die letzte im Kaiserreich gegründete Hochschule, eine Ausnahmeerscheinung unter den bestehenden Universitäten des preußischen Staates, denn sie wurde ausschließlich aus privaten Mitteln finanziert.
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die Akzeptanz der preußischen Herrschaft in Hessen war schließlich auch die demonstrative Verbundenheit mit der Region, die das hohenzollernsche Königshaus nach 1871 immer wieder bekundete. Sowohl Wilhelm I. als auch Wilhelm II. kamen oft und gerne nach Hessen. Bad Ems (heute in Rheinland-Pfalz) war der bevorzugte Kurort des alten Kaisers, seinen Enkel zog es eher in die eleganten Taunusbäder, allen voran nach Bad Homburg, wodurch der kleine Ort am Südhang des Taunus – bis 1866 als Sitz der Landgrafen von Hessen-Homburg immerhin Haupt- und Residenzstadt eines souveränen deutschen Zwergterritoriums – internationale Bekanntheit erlangte. Auch Wiesbaden verdankte der Zuwendung Wilhelms II. manchen neuen städtebaulichen Akzent. Im 1894 fertiggestellten Neubau des Königlichen Hoftheaters fanden seit 1896 alljährlich glanzvoll inszenierte Maifestspiele statt, zumeist in Anwesenheit des Monarchen («Kaiserfestspiele»). Noch stärker profitierte Kassel von der Gunst des Kaisers, der hier von 1874 bis 1879 seine Gymnasialzeit verbracht hatte und nun Schloß Wilhelmshöhe zur Sommerresidenz wählte. In Kassel wurde 1909 ebenfalls ein neues Hoftheater eröffnet; repräsentative Verwaltungsbauten der preußischen Regierung gaben der Funktion des Ortes als Provinzhauptstadt weithin sichtbaren Ausdruck.
Das Großherzogtum Hessen.
Während für die Bürger der Provinz Hessen-Nassau seit 1871 der deutsche Kaiser – als König von Preußen – die unmittelbare politische Bezugsgröße gewesen ist, was dort eine hohe Identifikation mit dem Kaiserreich nach sich gezogen hat, existierten für die Einwohner des Großherzogtums Hessen-Darmstadt und des winzigen nordhessischenFürstentums Waldeck noch die jeweiligen Landesherrn als Kristallisationspunkte regionaler politischer Identitäten – beide Länder konnten ihr staatliches Dasein in den 1871 gegründeten deutschen Nationalstaat hinüberretten. Hessen-Darmstadt war 1866 zunächst gleichfalls zur Annexion durch Preußen vorgesehen, denn auch die Darmstädter hatten im Krieg auf
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