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Geschichte machen: Roman (German Edition)

Geschichte machen: Roman (German Edition)

Titel: Geschichte machen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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gesehen hatte, wie sich ein Schwall Maden in ihren Eimer ergoß. Die arme Frieda. Und jetzt wurde die Zisterne leergepumpt, und sie mußten sich auf der anderen Straßenseite Wasser borgen wie die armen Schlucker. Die arme Frieda. Auch sie hatte sich so sehr ein Kind gewünscht.
    Ein kleines Mädchen, flehte Klara. Ein süßes kleines Mädchen, Lilli, dem sie insgeheim beibringen konnte, die Berge und die Felder zu lieben und die stickigen Städte zu verabscheuen. Heute abend hatte der Bastard gesagt, daß die Familie bald nach Linz ziehen würde. Verglichen mit Braunau war Linz eine Großstadt. Bei Linz mußte Klara immer an Federn, Pfoten und Pelz denken. Die Federn an den Hüten der Frauen, die leuchtend blauen Straußenfedern, die in den farbig gefliesten Dielen in Vasen aufgestellt wurden, die aufgefächerten Federn in den Buntglasfenstern über den Haustüren und die Federn ausgestopfter Vögel in den Vitrinen auf den Eßzimmeranrichten aus schwarzem Eichenholz. Federn, Pfoten und Pelz. Hirschpfoten mit eingefaßten Edelsteinen,die man als Broschen trug. Fuchspelze, die sich die buckligen Witwen um die Hälse schlangen; nicht bloß die Pelze, sondern den ganzen Fuchs, das vollständige Tier: Pfoten, Kopf, Augen und Zähne, den grinsend gebleckten V-förmigen Kiefer, das ganze Biest platt und getrocknet wie gepökelter Dorsch, wie unzerreißbares Papier.
    Sie bringen das Land in die Stadt, dachte sie. Sie bringen die Tiere um, damit sie sie tragen oder in Vitrinen ausstellen oder zu Lackschuhen und Lederkoffern verarbeiten können. Die Pferde müssen ein Leben lang Busse durch ihre Städte ziehen, und danach werden sie zu Leim verkocht, das Roßhaar dient als Sofafüllung, und mit den Schweifhaaren beziehen sie Geigenbögen. Die Bäume wandern in die Hochöfen und müssen Maschinen antreiben und die Häuser überheizen, oder sie werden zu Brettern zersägt, bekommen Eichenlaubmuster mit Eicheln, Nüssen und Ranken eingeschnitzt, werden dunkel gebeizt und wuchtig in die Stuben gestellt. Die Blumen werden getrocknet, gefärbt, zu Sträußen gebunden und auf Spitzendeckchen auf Klaviere gestellt. Und die großen, weiten Landschaften werden mit Öl auf Leinwände gemalt, dunkle, von Unwettern umbrauste Berge, nebelverhangene, steile Schluchten und sturmgepeitschte Wolkendecken. Dann hängt man sie an die Wände dunkler Flure, die von glanzlosen, zischenden Gasglühstrümpfen beleuchtet werden, und dort sollen sie den Kindern ewige Angst vor der Welt jenseits der Stadtmauern einjagen. Wie kann man bloß freiwillig in der Stadt wohnen? Blut, Eisen und Gas. Gänseblümchen. Denk an Gänseblümchen. Aber bei Gänseblümchen mußte Klara immer an Gänsehaut denken. Haut, die unter seinen verschwitzten Händen kribbelte und prickelte.
    Sie hatte gewußt, daß ihr eine Liebesnacht bevorstand, wie er das nannte. Sie hatte es gewußt, weil er sie nicht geschlagen, ja nicht einmal drohend angefunkelt hatte, nicht einmal, nachdem sie ihm beim Abendessen den Schoß mit Suppe bekleckert hatte. Kein Blick auf Pnina an der Wand, bloß diesesschauderhafte Lächeln und ein spielerischer Klaps auf die Hand, begleitet von einem scherzhaften »Du Frechdachs« mit piepsiger Gouvernantenstimme. Ein abscheuliches Grinsen, als wüßte er, daß seine Liebe unendlich viel schrecklicher war als seine brutalen Fäuste.
    Wie lange er wieder brauchte! Klara dachte an ihre Schwester, die sich immer über ihren Hermann, seine unmögliche und stets unbefriedigende Geschwindigkeit lustig machte.
    »Der ist schon wieder raus, bevor er richtig drin ist!«
    Aber Hermann war auch ein kerniger Naturbursche, der sich nur an Fest- und Feiertagen betrank und noch keine fünfzig war – ach du grüne Neune!
Ein
undfünfzig. Alois war letzten Monat einundfünfzig geworden – und witzelte immer, er trinke nur mittwochs und an Tagen mit »g«.
    Klara drückte das Kreuz durch und schaute sehnsüchtig zum Bild der Jungfrau Maria über dem Kopfteil hoch. Nachdem Alois sieben- oder achtmal rausgeglitscht war und wie ein Bierkutscher geflucht hatte, schien er jetzt endlich zu kommen. Sie erkannte den hektischeren Rhythmus und wartete auf die letzten viehischen Stöße.
    Himmel, dachte sie. Himmel, Seen, Wälder, Kaninchen und Adler. Genau, ein riesiger Adler, der von seinem Horst hoch oben in den Bergen herabstieß und das quiekende Schwein von ihr fortriß. Ein majestätischer Adler, der durch die Lüfte schwebte, allmächtig, allwissend, alles erobernd, mit

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