Geschichte machen: Roman (German Edition)
auch er fände meine überbordende Phantasie unerträglich peinlich. »Dann komm ich also morgen früh bei Ihnen im Labor vorbei.«
»Zweiter Stock, New Rutherford. Ich hole Sie an der Rezeption ab.«
»Freimaurer!« sagte ich.
»Wie bitte?«
»War er für die Freimaurer? Der rote Winkel?«
»Nein, auch nicht. Ich sag’s Ihnen morgen. Wiedersehen.« Er ließ mich am Brückengeländer in der heißen Sonne stehen. Unter mir beugten sich Jamie und Double Eddie am Flußufer vor, holten eine Angelleine ein und zogen eine Flasche Weißwein aus dem Wasser. Egal, was die Zukunft für sie bereithielt, dachte ich, die Erinnerung an diese Tage konnte ihnen niemand nehmen. Sie mochten sich als alte Knacker mit Haarausfall in feuchtkalten Provinzbibliotheken über ihren Bechern Earl Grey zanken; in den Redaktionsstuben ihrer Lokalblättchen für Budgeterhöhungen fechten; sich in Klassenzimmern despektierlicher junger Schläger erwehren; in der Crush Bar in Covent Garden über die Stimmlage einer Diva zwitschern – egal, wo sie das Leben als Strandgut anschwemmen würde, sie hätten die Erinnerung an diese Sommertage, als sie mit neunzehn Jahren, flachen Bäuchen und blendend schönen Haarschöpfen flußgekühlten Sancerre getrunken hatten. Ihnen gehörte dieser Ort ungleich mehr als mir, dachte ich traurig, dabei würde ich für immer hier bleiben. Für sie würde er zu einem Eiland im Ozean der Zeit werden, einer Oase in der Wüste ihrer Jahre, während er für mich bald nur noch ein bedrückender Arbeitsplatz voller Klatsch und Tratsch wie jeder andere sein würde.
Ach, halt doch den Rand, Michael. Oase in der Wüste ihrer Jahre! Fff! Also, manchmal rauscht dir aber auch ein Schrott durch die Birne. Wenn man im Leben schon leiden muß, dann ist es meiner Meinung nach viel besser, wenn man das Glück nie gekannt hat. Ich glaube, echter Schmerz ist für einen Menschen viel bitterer, wenn er in seiner Kindheit und Jugend nichts als Vertrauen, Liebe und Freude gekannt hat. Wenn ich schon von Wüsten und Oasen schwafle: Für einen Menschen, der im Verdant Valley von Vermont aufgewachsen ist, wäre es sehr viel schlimmer, plötzlich in der Sahara aufzuwachen, als für einen Tuareg, der sein Lebtag nichts anderes gekannt hat. Die Erinnerungen eines Verschmachtendenan zahllose nicht ausgetrunkene Gläser Eistee in glücklicheren Tagen sind nicht gerade ein Trost, oder was meinen Sie? Doch eher eine zerfressende Qual. Da ist es besser, man hatte eine Kindheit voller Elend, Hunger und Mißhandlungen. Dann lernt man die kleinen Dinge des Lebens wenigstens zu schätzen und weiß jeden einzelnen Tropfen Glück richtig auszukosten. Nein, Moment, so einfach ist das nicht: Das Problem ist das Trauma. Heutzutage redet man ja über nichts anderes mehr. Die erlittene Not traumatisiert einen und kapselt die Fähigkeit ein, etwas voll und ganz zu genießen. Sie betäubt einen, desensibilisiert und dissoziiert einen, oder wie die das nennen. Jamie und Double Eddie genossen das Leben jedenfalls in vollen Zügen, carpten den Diem, pflückten die Rose, lebten jeden Augenblick am Puls der Zeit, voll sensibilisiert und assoziiert. Freute mich für sie, denn die Zukunft würde sie noch früh genug am Schlafittchen kriegen.
Und
meine
Zukunft? Vielleicht hatte Fraser-Stuart recht, und ich hatte wirklich nicht das Zeug für eine akademische Karriere. Verdammt und zugenäht. Ich wußte doch, insgeheim wußte ich doch die ganze Zeit, daß es Wahnsinn gewesen war, diesen Mumpitz einzureichen. Mensch, das war mir doch klar! Trotzdem hatte irgendein innerer Dämon zugelassen, diese Passagen einzuarbeiten und mit dem Rest zusammen abzugeben. Vielleicht wollte ich ihn unbewußt provozieren, mich durchfallen zu lassen.
Kann man mit vierundzwanzig eine Midlife-crisis haben? Oder gehört das zur ganz normalen Krise des Erwachsenwerdens, und ich würde mich daran gewöhnen müssen, bis ich dermaleinst dem Vergessen entgegentatterte? Das ganze letzte Jahr über hatte ich diese Schmerzen gehabt, ging mir auf, als ob mir heißes Blei in den Magen tropfte. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, an die Decke starrte und Janes leises Schnarchen neben mir hörte, durchflutete meine Gedärme der dunkle Schwall der Erkenntnis, daß mir einweiterer Scheißtag bevorstand, den ich als ich durchstehen mußte. Woher weiß man, ob das verrückt oder normal ist? So was verrät einem ja kein Schwein. In den unaufhörlich wachsenden Bibellesekreisen an der Uni erzählen sie einem,
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