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Geschichte machen: Roman (German Edition)

Geschichte machen: Roman (German Edition)

Titel: Geschichte machen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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Rangbezeichnungen. Sturmbannführer. Man richtet vor dem Spiegel den Mützenschirm aus, salutiert mit der rechten Hand, schlägt die Hacken zusammen und bellt: ›Ich bin Sturmbannführer, Heil Hitler!‹ Kleine Kinder spielen das heute auf der ganzen Welt. Die Uniform, die Sprache, der Stil. Für die vernünftige Welt sind sie der Inbegriff von pfauenhafter Arroganz, Grausamkeit und viehischer Barbarei. Der Inbegriff der Infamie. Für mich sind sie das Symbol meines Papas.«
    »Aber das ist doch nicht Ihre Schuld.«
    »Michael, um die Schuldfrage kümmern wir uns bitte später.«
    Ich machte eine entschuldigende Geste. Hey, das war sein Spiel. Er war im Ballbesitz, und er legte die Regeln fest.
    »Eines Tages ruft mich, wie gesagt, meine Mutter, und ich gehe zu ihr. Papa hockt sich vor mich und streicht mir über den Kopf wie immer, wenn er prüfen will, ob ich Fieber habe.
    ›Axi‹, sagt er. ›Du mußt eine Weile auf Mutti achthaben. Ob du das wohl schon kannst?‹
    Ich verstehe nicht, worauf er hinauswill, aber ich schaue meine weinende Mutter an und nicke.
    Immer noch in der Hocke, dreht sich mein Vater zu seinem Arztkoffer. ›Mein wackerer Soldat! Leider muß ich dir jetzt etwas weh tun. Aber das dient nur deinem Besten. Das weißt du doch, oder?‹
    Ich nicke wieder. Die Injektionen kenne ich ja.
    Aber diese Injektion ist schmerzhafter als alle früheren. Sie nimmt überhaupt kein Ende, und ich brülle wie am Spieß. Der Schmerz verstört und verängstigt mich, aber Mutti ist da und streichelt und besänftigt mich. Unbewußt spüre ich, daß sie das mit mir machen, weil sie mich lieb haben. Schließlich gibt Papa mir einen Kuß, steht auf und küßt Mutti. Resolut zieht er seine Uniform glatt, packt den Arztkoffer zusammen und verläßt das Haus. Ich habe ihn nie wiedergesehen.« Leo verstummt, pustet auf seine heiße Schokolade und trinkt vorsichtig einen Schluck.
    »Wie alt waren Sie damals?«
    »Ich war sechs. Alles, was ich Ihnen gerade erzählt habe, weiß ich, aber erinnern kann ich mich daran nicht unbedingt. Einiges steht mir noch deutlich vor Augen, aber das meiste hatte ich vergessen. Manchmal blitzt etwas auf, dann bilden sich kleine Gedächtnisinseln. Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Mutter mir erklärt hat, wir hätten einen neuen Namen. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich jemals Axel Bauer war, ich kann mich nicht daran erinnern, daß ich jemals einen anderen Namen als Leo Zuckermann hatte. Ich weiß es, aber ich kann mich nicht erinnern.«
    »Wie haben Sie das alles dann herausgefunden?«
    »1967 war ich in Amerika an der Columbia University in New York City. Alles war nach Wunsch verlaufen. Ich war ein junger Professor, unwesentlich älter als Sie heute, und hatte eine große Zukunft vor mir. Ein jüdischer Junge, der die Shoah überlebt hatte und an einer Hochschule der Ivy League lehrte. Ein vollkommeneres Beispiel konnte es garnicht geben, wie jemand dem europäischen Alptraum entronnen und im amerikanischen Traum aufgewacht war. Aber eines Tages bekam ich einen Anruf und wurde in den Alptraum zurückbeordert. Und diesmal wird es kein Erwachen geben. Leo, deine Mutter hat einen Zusammenbruch erlitten, komm sofort her. Wie ein Wahnsinniger fuhr ich über die Brücke nach Queen’s. Als ich die Wohnung meiner Mutter erreichte, unterhielten sich vor ihrem Zimmer mehrere Männer und Frauen in gedämpftem Ton. Ein Rabbiner, ein Arzt, weinende Freunde. Man hatte die alte Frau auf dem Küchenboden gefunden. Sie liegt im Sterben, sagte der Arzt. Ich ging allein ins Schlafzimmer. Meine Mutter bedeutete mir, die Tür zu schließen und mich zu ihr ans Bett zu setzen. Sie war sehr geschwächt, erzählte mir jedoch unter Aufbietung all ihrer Kräfte ihre Geschichte. Meine Geschichte.
    Sie erzählte mir, was ich Ihnen gerade erzählt habe, daß ich in Wirklichkeit Axel Bauer hieße und daß mein Vater SS-Arzt in Auschwitz war. Sie erzählte mir, daß mein Vater Ende 1944 fest mit dem Eintreffen der Russen rechnete, die für das Geschehene Abrechnung und Vergeltung fordern würden. Er war der Überzeugung, sie würden sich nicht nur an ihm, sondern an seiner ganzen Familie rächen. Mein Vater glaubte, das jüdische Volk, dessen Moral Auge um Auge, Zahn um Zahn lautete, würde sich nicht mit seinem Tod zufriedengeben. Das hatte er vorausgesehen. Deswegen leitete er äußerst umsichtig das Überleben seiner Familie in die Wege. In der Chirurgie assistierte ihm damals ein jüdischer

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