Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geschichte machen: Roman (German Edition)

Geschichte machen: Roman (German Edition)

Titel: Geschichte machen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
Vom Netzwerk:
Häftling. Ein ausgezeichneter Arzt namens Abel Zuckermann, der aus Krakau stammte. Zuckermanns Frau Hannah, eine deutsche Jüdin aus Berlin, und ihr kleiner Sohn Leo waren sofort vergast worden, da sie nicht zur Arbeit herangezogen werden konnten, aber Zuckermanns Erfahrung mit hepatischen Leiden konnte den Nazis gute Dienste leisten, und so erhielt er Arbeit in der Chirurgie. Anscheinend hatte mein Vater ein gewisses Mitgefühl, steckte ihm heimlich Lebensmittel zuund ließ ihn aus seinem Leben erzählen. Im Verlauf weniger Wochen erfuhr er eine ganze Menge über Zuckermanns Familie, seine Vergangenheit, seinen Bruder in New York, der ihm im Lauf der Zeit fremd geworden war, seine Erziehung, seinen Werdegang, wie er seine Frau kennengelernt hatte – alles, was es zu wissen gab.
    Aber dann kam der Tag, an dem von Amts wegen entschieden wurde, der Judenarzt habe seine Schuldigkeit getan und nun sei es sein Judenschicksal, sich zu seiner Judenfamilie in die Judenhölle zu begeben. Vielleicht hat mein Vater bei dieser Entscheidung mitgewirkt. Es steht zu befürchten. Ob mein Vater ihn nun ins Gas schickte oder nicht, Abel Zuckermann starb jedenfalls an jenem Tag. An jenem Tag konnte Sturmbannführer Bauer den Plan zur Rettung seiner Frau und seines Sohns in die Tat umsetzen. An jenem Tag kam er nach Hause und schärfte mir ein, ich müsse stark sein und wie ein guter Soldat meine Mutter beschützen. An jenem Tag hockte er sich neben mich und tätowierte mir eine Lagernummer auf den Arm, den besten Paß, den ein Kind in den damals bevorstehenden Zeiten haben konnte. An jenem Tag wurde ich zu Leo Zuckermann. An jenem Tag reiste meine Mutter, nun nicht mehr Marthe Bauer, sondern Hannah Zuckermann, mit mir zusammen aus Auschwitz nach Westen. Immer auf der Flucht vor den Russen, die meine Mutter mehr fürchtete als der Teufel das Weihwasser. Wir wollten sichergehen, daß wir den Amerikanern oder Briten in die Hände fielen. Papa hatte meiner Mutter versprochen, er würde nachkommen, sobald über die Sache Gras gewachsen wäre. Irgendwie würde er uns finden, und dann wären wir wieder eine Familie. Meine Mutter meinte aber, in Wirklichkeit hätte er die ganze Zeit gewußt, daß er uns nie wiedersehen würde.
    All das hörte ich mir an, während draußen der Rabbiner und die Freunde warteten. Während meine Mutter sprach, stiegen Erinnerungen in mir auf und berührten mich wieMusik in weiter Ferne. Die Erinnerung an die Schmerzen der Tätowiernadel. Die Erinnerung an eine Ananas. Die Erinnerung an die Uniform meines Vaters. Und dann die Erinnerung an die nächtlichen Märsche, kilometerweite Märsche, und wie ich diese Nächte hindurch weinte. Die Erinnerung daran, daß ich nichts zu essen bekam. Die Erinnerung an meine Mutter, die immer wieder sagte: ›Du mußt dünn sein, Leo! Du mußt dünn sein!‹
    Ich erzählte ihr von dieser Erinnerung und fragte, ob sie damit etwas anfangen könne.
    ›Armer Junge‹, sagte sie. ›Es tat mir in der Seele weh, dich hungern zu lassen, aber wie hätte ich einem Beamten erklären sollen, daß wir aus einem Konzentrationslager geflohen waren, wenn du ein gutgenährtes Pummelchen gewesen wärst?‹
    Sie erzählte, nachdem wir eine Woche lang nach Süden und Westen gewandert waren, hätten wir uns einer Gruppe jüdischer Flüchtlinge angeschlossen, die aus einem der Todesmärsche geflohen waren.«
    Leo stockte und sah mich forschend an. »Sie wissen doch von den Todesmärschen, oder?«
    »Äh … nicht viel«, druckste ich herum.
    »O Michael! Wenn schon Sie als Historiker darüber nichts mehr wissen, muß man wirklich alle Hoffnung fahrenlassen.«
    »Na ja, das ist einfach nicht mein Gebiet, wissen Sie.«
    Leo ließ verzweifelt den Kopf hängen. »Na gut, ich erklär’s Ihnen. Als der Zusammenbruch nahte, war die SS fest entschlossen, daß kein einziger Jude durch den Vormarsch der Alliierten die Freiheit wiedersehen sollte. Ihnen war sonnenklar, daß der Krieg verloren war, aber kein Jude sollte die Niederlage überleben oder hinterher Bericht erstatten können. Als die Amerikaner und Briten von Westen und die Sowjets von Osten näher rückten, wurden die Lager geräumt, und riesige Häftlingskolonnen marschierten ins Zentrum Deutschlands. Die Häftlinge wurden zusammengeschlagen,gefoltert, ausgehungert und bedenkenlos ermordet. Sie mußten täglich kilometerweit laufen und erhielten als Tagesration nur eine Steckrübe, wenn’s hochkam. Hunderttausende starben unterwegs. Das waren

Weitere Kostenlose Bücher