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Geschichte machen: Roman (German Edition)

Geschichte machen: Roman (German Edition)

Titel: Geschichte machen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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woraus genau … bestand seine Arbeit?«
    »Er mußte die kranken Offiziere und Mannschaften der SS behandeln und war medizinischer Beobachter der Sonderaktionen, für die die Todeslager gebaut worden waren. Die Vergasungen. Außerdem …« Leo stockte und sah einen Augenblick an mir vorbei aus dem Fenster. »Außerdem führte mein Vater medizinische Experimente fort, die Kremer begonnen hatte. Die Entfernung innerer Organe zu Studienzwecken. Die beiden erforschten die zunehmende Dystrophie bei Unterernährung und allgemeiner Entkräftung. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. 1943 schrieb Kremer meinem Vater aus Münster und bat ihn, die von ihm begonnene Arbeit weiterzuführen und ihn über die Untersuchungsergebnisse ständig auf dem laufenden zu halten.«
    Leo stand auf und ging zum Bücherregal. Er griff nach einem grauen Band mit roter Schrift und blätterte darin.
    »Kremer hat Tagebuch geführt, wissen Sie. Das sollte ihm zum Verhängnis werden. Er war nur drei Monate in Auschwitz, aber das reichte. Das Tagebuch wurde von den Briten beschlagnahmt, die ihn daraufhin an Polen auslieferten. Dieses Buch ist 1988 in Deutschland veröffentlicht worden und enthält Auszüge aus dem Tagebuch. Ich zitiere: ›10. Oktober 1942 Lebendfrisches Material von Leber, Milz und Pankreas entnommen und fixiert. Faksimilestempel von Häftlingen anfertigen lassen. Zum 1. Male das Zimmer eingeheizt. Noch immer Fälle von Flecktyphus und Typhus abdominalis. Lagersperre geht weiter.‹ Am Tag darauf: ›Heute Sonntag gab’s zu Mittag Hasenbraten – eine ganze dicke Keule – mit Mehlklößen und Rotkohl. 17. Oktober 1942 Bei einem Strafvollzug und 11 Exekutionen zugegen. Lebendfrisches Material von Leber, Milz und Pankreas nach Pilocarpininjektion entnommen. Bei naßkaltem Wetter heute Sonntagmorgen bei der
11.
Sonderaktion zugegen. Gräßliche Szenen bei drei Frauen, die ums nackte Leben flehen.‹ Und so geht das endlosweiter. Das waren Kremers drei Monate. Sein gesamter Beitrag zur Endlösung der Judenfrage in Europa. Mein Vater wird ein ähnliches Leben geführt haben, nur schrieb er kein Tagebuch. Aus diesen zweieinhalb Jahren gibt es weder Tagebuch noch Briefe.« Leo betonte jede einzelne Silbe: »Zwei-ein-halb Jah-re.«
    Ich mußte schlucken. »Wurde Ihr Vater ebenfalls verhaftet? Nach Kriegsende?«
    »Ich weiß nicht warum, aber Kremers einer Eintrag geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte Leo und nahm keine Notiz von meiner Zwischenfrage, »›Faksimilestempel von Häftlingen anfertigen lassen‹. Warum denkt man in der Geschichtswissenschaft nie über solche Einzelheiten nach? Man hat die Gaskammern vor Augen, die Verbrennungsöfen, die Hunde, die Brutalität der Wachen, die Krankheiten, die entsetzten Kinder, die gequälten Mütter, die unberechenbare Grausamkeit, die unsäglichen Schrecken, aber nie ›Faksimilestempel von Häftlingen anfertigen lassen‹. Da wird ein brillanter Professor, der Ordinarius eines Anatomie-Instituts, in ein Konzentrationslager berufen. Nach einer Woche, sagen wir, hat er es satt, am laufenden Band Formulare zu signieren. Können wir uns vorstellen, was für Formulare? Bestellformulare für Phenol und Aspirin? Gutachten, dieser oder jener kranke Häftling sei arbeitsunfähig und daher der Sonderaktion zu überstellen? Befehle zur Entfernung innerer Organe? Wer weiß? Alle möglichen Formulare. Also meint er eines Morgens zu einem Kollegen: ›Verflixt und zugenäht, ich kann den Quartiermeister einfach nicht dazu bringen, mir einen Faksimilestempel zuzuteilen. Er meint, ich hätte ja bloß eine Zeitstelle und ein Stempel aus Berlin wäre frühestens in zwei Monaten hier.‹
    ›Immer mit der Ruhe‹, sagt der Kollege, ›laß dir doch einen von den Häftlingen anfertigen.‹
    Und wie stellt er das an, unser brillanter Professor mit seinen zwei Doktortiteln, der ganze Generationen ausgebildeter Heiler und Chirurgen in die Welt hinausgeschickt hat?Wie setzt er diese einfache, auf der Hand liegende Idee in die Tat um? Läßt er einen Häftling rufen, einen jüdischen Kapo vielleicht, und ihn alles Nötige arrangieren? Marschiert er mir nichts, dir nichts in eine Baracke, läßt die Häftlinge strammstehen und sagt: ›Alle mal herhören: Weiß einer von euch, wie man Büromaterialien herstellt? Ich brauche einen Stempelschneider. Freiwillige vor.‹ Wer weiß? Egal, wie es abgelaufen ist, alles wird zu seiner Zufriedenheit geregelt. Kremer schreibt seinen vollen Namen ›Johann Paul Kremer‹

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