Geschichte machen: Roman (German Edition)
heraufbeschwören, wie dieser Korridor wirkte, bevor er wohlbekannt und vertraut wurde, und man wundert sich, daß er einen je so ins Bockshorn jagen konnte. Trotzdem verläßt einen nie die bleierne Gewißheit, daß diese Gewöhnung in Wirklichkeit eine Verfälschung und ein Verlust ist.
Nur an diese Schwüle würde ich mich nie gewöhnen. Sie hatte einen metallischen Beigeschmack von Stürmen, die in weiter Ferne über den Horizont tobten.
Als ich die halbe Treppe hinabgelaufen war, hörte ich Turnschuhe auf dem Holz quietschen und Hände gegen das Geländer klatschen, als jemand die Treppe hochsprintete.
Egal, wer das ist, sagte ich mir, der wird jetzt gnadenlos gelöchert.
Ich sah nach unten und bemerkte einen Blondschopf, der mir entgegensprang.
»Entschuldigung«, sagte ich, »kannst du mir …«
»Hey! Es lebt!«
»Ähm …«
»Und? Wie geht’s, wie steht’s?«
»Ich …«
Er schlug mir auf die Schulter, und unruhige blaue Augen sahen mich an. »Hi, Mann. Du siehst immer noch fix und fertig aus. Alter Schwede, du warst gestern abend vielleicht breit. Ich, äh, ich wollte nur kontrollieren, ob du von den Toten auferstanden bist.«
»Äh … wo genau bin ich eigentlich?«
»Klar! Haargenau! Ich schlage vor, wir gehen in den Tower und trinken ’n Kaffee.«
Wir liefen die Treppe hinunter. Er war der Bursche von gestern abend, soviel hatte ich geschnallt.
»Du bist Steve, oder?«
»Ach, komm schon, Mikey, laß den Scheiß, okay? Das fällt immer noch unter Sparscherz. Eieiei! Ich hab heute morgen aber auch ’n dicken Kopf.«
»Wo willst du hin?«
»Sag ich doch, in’n Tower … obwohl, nee, so wie du aussiehst, gehen wir lieber zu PJs. Dann kommst du ’n bißchen an die frische Luft.«
Ich folgte ihm zu einer Tür am Fuß der Treppe. Er lehnte sich kurz dagegen, sah mich unter gesenkten Lidern an und schüttelte traurig den Kopf wie ein Lehrer angesichts eines Schülers, der ein schlimmes Ende nehmen wird. Steves Blick spiegelte auch Verwirrung – Verwirrung und einen Anflug von Hoffnung, was ich nicht verstand. Diesen Blick sollte ich erst später – viel später – verstehen.
»Ay-yi-yi …«
Er seufzte und drückte die Tür auf. Tropisch schwüle Schwaden schlugen mir ins Gesicht. Noch weit umwerfender war das Panorama, das sich uns bot, so umwerfend, daß es mir den Atem und fast den Verstand raubte. Vor uns lag ein riesiger Hof, oder besser, eine Reihe von Höfen. In alle Richtungen erstreckten sich Collegetürme, Pförtnerhäuschen, Rasenflächen, Kreuzgänge und Innenhöfe mit Statuen. Als hätte St. Matthew’s Krebs bekommen und überspannte,mutierte, üppige und verrückte Variationen auf das Thema Cambridge hervorgebracht.
Ich rührte mich nicht vom Fleck, die Beine durchgedrückt wie ein Kind.
»Was ist denn los?«
»Ich … ich …«
»Mann, dir geht irgendwas schwer auf die Eier, stimmt’s?« Ich nickte wie betäubt.
»Komm mal her«, sagte Steve. »Sieh mich an. Du sollst mich
ansehen
…« Er sah mir besorgt in die Augen. Ich erwiderte seinen Blick und schwitzte Blut und Wasser.
»Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung. Deine Pupillen sind normal, find ich. Ich hab allerdings keine Ahnung, wie Pupillen nach einer Gehirnerschütterung aussehen. Komm.«
Wie im Traum lief ich neben ihm her. Um uns herum ragten nachgeahmte frühklassizistische Glockentürme und unechte mittelalterliche Zinnen in die Höhe. Widersinnig schöne Wasserspeier sahen auf uns herab; unter meinen Füßen führten gepflasterte, von rötlichem Asphalt eingefaßte Pfade ins Herz dieses riesigen Prachtdorfes.
Das Ganze erinnerte mich an
Nummer Sechs
und daran, wie Patrick McGoohan in seinem kleinen Zimmer im Dorf aufwacht. Die Kamera ist ganz vernarrt in die Ausstattung und zoomt von Zimmerspringbrunnen über oxidierte Kupferkuppeln zu gewölbten Palazzi und höhnisch grinsenden Cherubim aus Stein.
Wo bin ich?
Im Dorf.
Wer bist du?
Ich bin Nummer Zwei.
Wer ist Nummer Eins?
Du
bist Nummer Sechs.
Ich bin keine Nummer, ich bin ein FREIER MANN.
Steve hatte mich untergehakt, wir liefen an einem Pförtnerhäuschen vorbei, in altem Stil, aber massiv, sauber und neu, und traten auf eine starkbefahrene Straße.
Es dauerte einen Augenblick, bis der Groschen fiel.
»Mein Gott«, sagte ich. »Die Autos …«
»He, Mikey, nun krieg dich mal wieder ein, ja? Kein Grund zur Aufregung. Wir gehen da vorn über die Straße.«
»Aber
wo sind wir
? Das hier ist nicht England!«
»O Gott,
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