Geschichten aus der Murkelei
ein einziger Biß von ihr einen Mann töten kann.
Diese Kreuzotter war aus dem Loch gefahren, wütend, daß der Mann sie gestört hatte, und hoch aufgerichtet ließ sie den Kopf
vor seinen Beinen auf und ab tanzen, jederzeit bereit, zuzubeißen. Der Mann aber stand da, in Angst vor dem Biß der Schlange,
und konnte gar nichts tun. Versuchte er nur, den Fuß zu rühren, um wegzulaufen, so brachte das die Schlange in neue Wut, und
sie stieß vor mit dem Kopf, und ihr tödlicher Biß drohte ihm. Er aber hatte nichts zur Waffe als seine nackten Hände, um zuzugreifen,
aber mit nackten Händen kann man nicht nach einer Schlange greifen, ohne gebissen zu werden.
|57| Also stand der Mann voller Schrecken bewegungslos da, und er dachte bei sich: Wenn ich nur ganz unbeweglich stehe, so hält
die Schlange vielleicht meine beiden Beine für zwei Baumstämme oder Stöcke, und nach einer Weile läßt ihre Wut nach, sie geht
in ihr Loch zurück, und ich kann fliehen.
Die Schlange aber tanzte immer weiter zornig vor seinen Beinen, bedrohte ihn mit ihrem Maule und hielt ihn in großer Angst.
Da dachte der Mann wieder bei sich: Ich kann hier nicht mehr lange ohne alle Bewegung stehen. Schon schlafen meine Füße ein,
und die Waden tun mir weh. Ich muß mich rühren. Wenn ich mich aber rühre, beißt mich die Schlange, und ich muß sterben. Da
habe ich mich nun die ganze Zeit hier über alles und jedes geärgert, über jede Fliege, alle Mücken und Wespen, über den Igel
und über die Raupen, über Wasserschleppen und abgefallene Gurken. Alle Tage habe ich mich geärgert. Wenn ich mich alle Tage
gefreut hätte, hätte ich doch ein vergnügtes Leben gehabt. So habe ich mich jeden einzigen Tag geärgert und habe nur ein dummes
Leben gehabt. Wenn ich dieses Mal noch heil davonkomme, will ich mich gewiß nicht wieder so oft ärgern, sondern lieber alle
Tage freuen.
Als der Mann sich das vorgenommen hatte, hörte er ein Rascheln, und unter einem Strauch kam der Igel hervor. Mach, daß du
wegkommst, Igel, dachte der Mann, sonst wirst du auch gebissen und mußt sterben.
Aber der Igel raschelte ruhig weiter. Im Zickzack torkelte er auf die böse Kreuzotter zu, und er sah aus, als sei er gewaltig
wütend, so dick hatte er die Kopfhaut gefaltet, und so spitz trug er seine Stacheln. Er ging immer näher an die Schlange heran,
und die tanzte schon nicht mehr vor dem Manne, sie hielt den Kopf auf den Igel zu und fauchte ihn wütend an. Der Igel aber
kümmerte sich gar nicht darum, er hatte keine Angst, und als er bei der Schlange war, beroch er sie mit seiner schwarzen,
feuchten, spitzen Nase. Schwapp! – hatte sie ihn hineingebissen.
|58| Armer Igel! dachte der Mann und machte schnell einen großen Satz von der Kreuzotter fort, jetzt mußt du sterben. Aber der
Igel schüttelte nur den Kopf und fing an, sich gemütlich die gebissene Nase zu lecken. Schwapp! – hatte ihn die Schlange in
die Zunge gebissen.
»Oh! Oh! Oh!« rief der Mann, der jetzt aus sicherer Ferne zuschaute. »Du armer, vergifteter Igel, du!«
Der Igel zog die Zunge ein, guckte die Schlange an und fing wieder an, sie zu beriechen, als rieche sie so schön wie ein Blumenstrauß.
Schwipp – Schwapp – Schwupp!!! Hatte er drei Bisse im Kopf.
»Hin bist du, Igel!« sprach der Mann traurig und wunderte sich bloß, daß der Igel nicht tot umfiel. »Weil du mich aber gerettet
hast, will ich dich auch schön begraben unter meinem Birnbaum.«
Der Igel sperrte das Maul auf, als müßte er gähnen über diese langweilige Schlange, die nichts konnte als zischen und beißen,
und – schwuppdiwupp! – hatte er die Kreuzotter im Maul, biß zu, kaute los – und die Schlange mochte ihren Leib drehen und
winden, soviel sie wollte, der Igel fraß sie auf, vom Kopf bis zu der Schwanzspitze. Dann legte er sich in die Sonne und schlief
ein.
Der Mann ging hinzu. Es war ihm ganz egal, daß die Stacheln stachen, er nahm den Igel in seine Hände, trug ihn ins Haus, legte
ihn in eine Kiste, die er schön mit Heu gepolstert hatte, setzte ihm Milch in einem Schälchen hin und sprach dabei: »Oh, du
getreuer Igel! So oft habe ich dich mit dem Tode bedroht und aus dem Garten gewünscht. Du aber bist immer wiedergekommen und
hast mir nun sogar das Leben gerettet. Wenn du am Leben bleibst, sollst du mein liebster Geselle sein, bei mir wohnen dürfen,
und die allerbesten Birnen und Gurken sollst du auch haben.«
Der Igel aber hörte von der
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