Geschichten aus der Murkelei
wieder pfeift die Ratte. Die Frau rennt in die Küche: Die Ratte schläft.
So trieb es die listige Ratte an diesem Tage mit der Hausfrau, und sie brachte sie ganz von Sinn und Verstand. Bei dem ewigen
Umherlaufen und Suchen wurde keine Arbeit getan, kein Zimmer gesäubert, kein Essen gekocht. Ja, die Ratte trieb zum Schluß
ihre Frechheit so weit, daß sie vor den Augen der Hausfrau auf den Betten spazierenging – |133| lief die Frau dann aber in die Küche, hing die Ratte schon wieder an ihrem Bande und kam rechtzeitig in ihr Kistchen.
»Soll ich denn meinen eigenen Augen nicht mehr trauen dürfen?!« rief die Hausfrau und brach vor Ärger, Abgehetztsein und Wut
in Tränen aus. So fand der Hausherr sie und fragte erstaunt nach der Ursache ihrer Tränen. Da berichtete ihm die Hausfrau,
wie es ihr an diesem Tage ergangen sei, wie sie überall Ratten gehört und gesehen habe und wie sie vor lauter Rattenplage
kein Essen habe kochen und kein Zimmer habe rein machen können.
Der Hausherr ahnte gleich, daß eine List der Ratte dahinterstecken müsse, aber er tat freundlich, rief die Ratte aus ihrem
Kistchen und fragte sie, wie sie den Tag verbracht habe.
»Gut«, antwortete die Ratte. »Ich habe in meinem Kistchen geschlafen.«
»Und du bist bestimmt nicht in die andern Zimmer gegangen?« fragte der Hausherr.
»Wie kann ich das?« fragte die Ratte dagegen. »Wo du mir das so strenge verboten hast?«
»So!« sagte der Hausherr. »Und wie erklärst du dir, Ratte, daß die Frau überall, wo sie auch war, Ratten pfeifen gehört hat
und Ratten laufen gesehen hat –?«
Das könne sie sich auf keine Weise erklären, sagte die Ratte ganz frech. Es müsse denn sein, daß die Hausfrau ihres schlechten
Gewissens wegen immer an Ratten habe denken müssen, weil sie ihr nämlich statt der ausbedungenen Kost nur eine versalzene
Wassersuppe hingestellt habe.
Ob das so sei? fragte der Hausherr nun seine Hausfrau. Ob die Ratte heute nichts bekommen habe als ein Wassersüppchen?
Nun wurde die Hausfrau erst recht zornig, erhitzt fragte sie, ob denn solch Wassersüpplein etwa nicht gut genug sei für eine
Nichtstuerin wie die Ratte? Ein Süpplein aus Mehl und Wasser, wie man es sogar den Kranken mit ihrem schwachen Magen gebe!
Und was das Salz betreffe, so liebe |134| es der eine eben gesalzener als der andere, das nächste Mal werde sie die Ratte fragen, wie sie es am liebsten möge!
Der Hausherr war in einer schlimmen Lage. Fortschicken konnte er die Ratte nicht, denn ein Verbrechen gegen den Vertrag war
ihr nicht nachzuweisen. Er sah aber auch, daß es zwischen Hausfrau und Ratte je länger je schlechter gehen müsse. Schon jetzt
hatte sein gutes Weib einen rechten Zorn auf das Tier. Kurz und gut: der Hausherr wäre die Ratte gern wieder los gewesen aus
dem Hause und wußte nur nicht, wie er’s angehen sollte. Er sann darum auf eine List, die aber sehr fein sein mußte, denn die
Ratte war auch listig und durchtrieben.
Als er darum eine Weile nachgedacht hatte, fragte er die Ratte: »Sag, Ratte, hast du nicht scharfe Augen?«
Die Ratte, die ja sehr viel von sich hielt, sagte, sie habe die schärfsten Augen von der Welt.
»Und hast du nicht auch scharfe Zähne, Ratte?« fragte der Hausherr wieder.
»Mit meinen Zähnen kann ich sogar Draht, Blech und Zement beißen«, sagte die Ratte stolz.
»So will ich dir morgen zeigen, wie du mir in einer Sache helfen kannst«, sprach der Hausherr, »in der mir niemand helfen
kann als nur du allein.«
Die Ratte versprach geschmeichelt ihre Hilfe, und am nächsten Morgen, als die beiden gefrühstückt hatten – und nicht nur eine
salzige Wassersuppe –, gingen sie los. Sie stiegen gemeinsam auf den Boden, wo der Hausherr eine geräumige Äpfelkammer hatte,
voll der schönsten Winteräpfel, aber ein wenig dämmrig.
»Sieh einmal, Ratte«, sprach der Hausherr, »hier habe ich meine Äpfel liegen. Wie es aussieht, eine gewaltige Menge, von der
man denkt, sie müsse bis Ostern reichen. Sie reicht aber nie so lange. Das kommt daher, daß, während ich von Haus fort bin,
Diebe an meine Äpfel gehen und den besten Teil mausen. Nun habe ich gedacht, du hast scharfe Augen, |135| die selbst hier im Dämmern die Diebe wohl erspähen können, und du hast scharfe Zähne, mit denen du die Diebe am Ohr blutig
zeichnen könntest, daß ich sie erkenne, wenn ich wieder nach Haus komme. Willst du nun hier für mich Wache stehen, fleißig
nach Dieben spähen
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