Geschichten von der Bibel
alle Bürger und Bürgerinnen in seinem Reich gleich behandelt wurden, die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten hatten, und sein Vater hatte daran nichts geändert. Im Haus des Pharaos gab es keine Ressentiments, weder gegen die Hebräer noch gegen sonst jemanden, daran hatte auch der Krieg gegen die Edomiter nichts geändert. Zephus Gift hatte im Haus des Pharaos keine Wirkung getan. Hätten die neuen Minister einen anderen Gegner genannt, Malul wäre genauso darauf eingegangen. Herrschaft braucht einen Gegner, um sich zu entfalten. Und es spielt kein Rolle, wer dieser Gegner ist.
In einem Augenblick entschied Malul, daß der Gegner seiner Herrschaft Israel heißen wird. Malul wird ein sehr alter Mann werden, und seine Herrschaft wird vierundneunzig Jahre dauern, und die Feindschaft mit Israel wird die alles bestimmende Antriebskraft dieser Regentschaft sein. Unter der Politik dieses Pharaos wird Israel stöhnen. Die Tyrannei Maluls wird im Volk Israel eine mächtige Sehnsucht wecken, die Sehnsucht nach einem Erlöser. Israel wird zu seinem Gott beten, wird schreien nach einem, der es herausführt aus dieser Knechtschaft. – Und es war doch nur ein winziger Augenblick, in dem sich Malul zu dieser Politik der Unterdrückung entschloß.
Er zog sich zurück in seine Gemächer. Rief seine Amme. Sagte zu ihr: »Erzähl mir eine Geschichte! Aber diesmal erzähl mir die traurigste Geschichte, die du kennst.«
Die Amme wunderte sich. Sie wunderte sich, daß ihr Liebling keine lustige Geschichte zu hören wünschte wie sonst immer. Aber sie war auch froh darüber, denn sie wollte ja, daß Malul ein großer Pharao würde, einer, der in die Geschichte Ägyptens einging, und in die Geschichte geht man nur ein, wenn man auch die traurigen Seiten des Lebens kennt. Dennoch mißtraute sie diesem Sinneswandel. Sie dachte lange nach.
Dann sagte sie: »Also gut, ich werde dir die traurigste Geschichte erzählen.«
Aber es war nicht die traurigste Geschichte, es war nur eine traurige Geschichte. Die Amme war eine gute Erzählerin, und sie wußte, daß traurige Geschichten viel mehr in der Lage sind, ein Menschenherz zu erregen, als lustige Geschichten, und obwohl sie Malul mehr liebte als alles auf der Welt, mußte sie sich doch eingestehen, daß er ein liederliches Gemüt hatte, und ein liederliches Gemüt zu erregen kann gefährlich sein.
»Die traurigste Geschichte«, begann sie, »ist die von dem armen Mann und der armen Frau, die sich sehr liebten und keinen größeren Wunsch hatten, als eine kleine Familie zu gründen. Um sich das zu erfüllen, mußten sie viel arbeiten. Die Frau arbeitete am Tag auf dem Feld, der Mann arbeitete in der Nacht als Nachtwächter. So kam es, daß sie sich gar nicht mehr sahen. Mit der Zeit erloschen ihre Liebe und ihre Lust, sie bekamen kein Kind, sie bekamen kein Haus, und sie wurden keine Familie. Das ist die traurigste Geschichte dieser Gattung, die ich kenne«, sagte die Amme.
»Ich habe einen Entschluß gefaßt«, verkündete Malul seinen Ministern am nächsten Tag. »Vor den Städten Ramses und Pithom werden wir Wehranlagen errichten lassen!«
»Brauchen wir solche Wehranlagen?« fragten die Minister.
»Nein«, sagte Malul. »Wir brauchen nicht die Wehranlagen, wir brauchen die Arbeit an den Wehranlagen. Wir werden die Israeliten zur Arbeit heranziehen. Sie werden Lohn bekommen, aber jeden Tag weniger. Je weniger Lohn sie bekommen, desto mehr müssen sie arbeiten. Die Männer sollen ihre Frauen nur einmal im Jahr sehen, nur ein einziges Mal, und nur für eine Nacht. So wird Israel klein werden und schwach.«
Der Bauminister gab die Pläne in Auftrag. Der Sozialminister ließ verlautbaren, wo sich die Männer Israels versammeln sollen. Der Heeresminister schritt die Soldaten ab, sonderte die Söhne Israels von den Söhnen Ägyptens, und die einen trieben die anderen zusammen.
»Was gibt’s?« fragte ein Israelit einen Ägypter.
»Arbeit«, antwortete dieser.
»Wir haben Arbeit.«
»Jetzt bekommt ihr neue.«
»Und wer macht unsere alte Arbeit?«
»Eure Frauen, wer sonst!«
»Und wer betreut unsere Kinder?«
»Habt ihr nicht einen Gott, der über Engel verfügt? Sagt ihm, er soll einen schicken, damit er auf die Kinder aufpaßt!«
»Und wer hat überhaupt den Befehl zu diesem Unsinn gegeben?«
»Malul der Lustige!«
Israel stöhnte unter der Fron. Die Frauen stöhnten unter der Männerarbeit, die Männer wurden von ihren Lieben weggerissen. Sie wurden aus ihren
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