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Geschichten von der Bibel

Geschichten von der Bibel

Titel: Geschichten von der Bibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Dörfern geholt, aus ihren Häusern in den Städten, auf den Feldern wurden sie eingefangen wie wilde Tiere, aus den Büros wurden sie gezerrt, aus ihren Werkstätten. Ganz gleich, was für einen Beruf einer vorher ausgeübt hatte, ob er Schneider oder Lehrer, Musikant oder Obstverkäufer gewesen war, von nun an gab es nur einen Männerberuf im Volk Israel, den Beruf des Ziegelbrenners. Die Männer wurden vor die Städte Ramses und Pithom geschafft, und am Rand dieser Städte, wo die Wüste begann, wurden Öfen errichtet, und in der heißen Wüstensonne arbeiteten die Männer an den heißen Öfen, brannten aus Lehm Ziegel – für ein Bauwerk, dessen Errichtung keinen anderen Sinn hatte, als sie zu quälen.
    Und die Männer sahen ihre Frauen nicht mehr und sahen ihre Kinder nicht mehr und hatten Sehnsucht nach ihren Frauen und ihren Kindern. Und wenn Männer über eine lange Zeit ohne Frauen sind, dann werden sie roh, und ihre Einbildungen werden roh, und ihre Sehnsucht wird wie Hunger und am Ende wie Gier. Davor fürchteten sich die Männer, und auch die Frauen zu Hause fürchteten sich davor. Sie fürchteten, daß keine Liebe mehr sein wird zwischen ihnen, wenn sie sich endlich sähen, keine Zärtlichkeit, sondern nur Hunger und Gier. Fürchteten, daß aus Gier und Hunger keine gute Nachkommenschaft erwachse. Fürchteten, daß sie am Ende gar nicht mehr bei den Männer liegen wollen, denn Hunger und Gier machen häßlich.
    »Ich weiß gar nicht mehr, wie meine Frau aussieht«, sagte einer, da war ein Jahr fast um.
    »Ich auch nicht«, sagte der andere. »Aber es ist mir egal.«
    »Mir auch«, sagte ein dritter.
    Und sie schämten sich.
    Wenn es eine Geschichte war, die Malul zu dieser bizarren Maßnahme inspiriert hatte, dann haben die Erzähler der Gegenseite ebenfalls eine Geschichte gefunden oder erfunden, in der geschildert wird, wie die Männer und Frauen Israels sich gegen diese Form der Unterdrückung zur Wehr gesetzt haben.
    Da sei nämlich, heißt es, ein findiger Bursche gewesen, der habe sich etwas ausgedacht.
    »Wenn ihr nach Hause kommt«, sagte er zu den Männern, »zieht eure Frauen nicht sofort aufs Lager.«
    »Warum nicht?« riefen die Hungrigen, Gierigen. »Wir haben ein Jahr lang gewartet, und wir haben wenig Zeit. Wenn wir uns nicht beeilen, wird in Israels Nachkommenschaft ein Jahrgang fehlen!«
    Der Bursche aber kannte die traurigste Geschichte, die die Amme des Pharaos ihrem Liebling erzählt hatte.
    »Es muß eine Liebe sein«, sagte er.
    »Liebe hin oder her!« riefen da die Gierigen, Hungrigen.
    »Laßt ihn reden«, sagten die Besorgten und fragten den Burschen: »Wie kann in wenigen Stunden eine Liebe wachsen, die in einem langen Jahr verroht und verdorrt ist?«
    »Wenn ihr in euer Haus kommt«, sagte der Bursche, »nehmt zwei Spiegel, den einen gebt eurer Frau, den anderen aber behaltet. Dann setzt euch nebeneinander auf das Bett. Und dann schaut euch im Spiegel an.«
    »Der Mann soll die Frau anschauen, und die Frau den Mann?«
    »Nein«, sagte der Bursche. »Der Mann soll sich selber anschauen, und die Frau soll sich selber anschauen. Der Mann soll sich im Spiegel anschauen und zu sich selbst sagen: Oh, bin ich schön! Ich bin so schön! Ich bin ein schöner Mann! Und die Frau soll sich im Spiegel anschauen und zu sich selbst sagen: Oh, bin ich schön! Ich bin so schön! Ich bin eine schöne Frau!«
    Die Männer Israels haben dem jungen Burschen geglaubt, denn er hatte gute Argumente, ein Engel sei ihm im Traum erschienen und habe ihm aufgetragen, er solle so zu den Männern Israels sprechen.
    Und der Engel hatte einen guten Ratschlag gegeben. Die Männer taten genauso, und der Hunger wurde erträglich und die Gier geduldig, und die Liebe war wieder da. Alle israelitischen Ehefrauen waren nach dieser Nacht schwanger, und neun Monate später brachte jede von ihnen nicht nur ein Kind zur Welt, sondern Zwillinge oder gar Drillinge. Und Männer und Frauen, so erzählt diese Geschichte, waren um eine Erfahrung reicher, nämlich daß Liebe nicht sein kann ohne Eigenliebe.
     
    Pharao Malul rief abermals seine Amme zu sich und sagte: »So, du hast mir die traurigste Geschichte erzählt, erzähle mir nun die zweittraurigste Geschichte, die du kennst!«
    Die Amme sagte: »Die zweittraurigste Geschichte, die ich kenne? Ach ja, ich kannte einmal eine Frau, und diese Frau liebte nichts so sehr wie Kinder. Kinder, das war ihr Glück. Sie heiratete, aber sie konnte keine eigenen Kinder kriegen, das

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